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Es war Montag und ich saß mit meinem besten Freund Paul in der S-Bahn, die uns zu der Klinik bringen sollte, in der wir seit sechs Jahren arbeiteten. Wenn man die Ausbildungszeit dazu zählte, waren es mittlerweile sogar schon neun. Seit neun Jahren nahmen wir dieselbe Bahn, denselben Weg, in dieselbe Klinik. Die einzige Abwechslung war die Arbeit selbst, denn in unserer Tätigkeit als Pflegefachkraft, glich kein Tag dem anderen. Im Gegenteil. Jeder Tag war wie eine große Wundertüte, vollgepackt mit schönen oder traurigen Momenten. Seit dem Ende meiner Ausbildung arbeitete ich auf der Palliativstation einer Frankfurter Klinik, die direkt am Mainufer lag und einen herrlichen Blick auf die Skyline bot.

Ein Highlight, über das nur unsere Station verfügte, war eine Dachterrasse. Auf dieser konnte man eine atemberaubende Aussicht genießen. Nicht selten verbrachten meine Kollegen und ich die Pausen dort, oder luden unsere Patienten zu einem kleinen Spaziergang im Freien ein. Vor allem jetzt, da der Sommer Einzug hielt, nutzten wir die Dachterrasse wieder mehr. Meine Kollegin Maggie hatte einen grünen Daumen und wir hatten sie dazu auserkoren, die Pflanzen die dort wuchsen zu hegen und zu pflegen. Jeder unserer Patienten brachte seine eigene Persönlichkeit ein und es entstand ein hübsches Arrangement aus bunten Blumen und Gemüse- und Obstpflanzen. Unsere Station war mit acht Betten recht klein, aber so konnten wir gewährleisten, dass die Patienten die Aufmerksamkeit erhielten, die sie nicht nur benötigten, sondern verdient hatten.

In all den Jahren, die ich dort schon arbeitete, hatte ich eines nie verloren: mein Einfühlungsvermögen. Manche Patienten begleiteten wir wochenlang, bis sie ihren letzten Atemzug taten, in ein Hospiz verlegt wurden, oder wieder nachhause gingen, um zu einem späteren Zeitpunkt zu uns zurückzukehren. Ich liebte diesen Job und ich konnte voller Überzeugung sagen, dass mich meine Tätigkeit auf der Station erfüllte, egal was der Tag mit sich brachte.

Ein Großteil wurde vom Team dazu beigetragen. Wir verstanden uns nicht nur wie ein solches. Wir waren mehr eine kleine Familie innerhalb dieser Klinik, die füreinander da war. Der Dienst konnte traurig, chaotisch oder katastrophal sein, mit diesen Kollegen überstanden wir jeden Sturm und sahen zusammen wieder den Sonnenschein. Und ich war dankbar, ein Teil davon zu sein, und konnte mir nichts Besseres vorstellen. An meinen freien Tagen sprang ich gerne ein und unterstütze meine Kollegen, wenn ein anderer ausfiel. Ich machte es gerne, weil ich wusste, dass sie dasselbe für mich tun würden. Einer für alle, alle für einen- so lautete unser Motto.

Und während ich in der S-Bahn saß, konnte ich es kaum erwarten, wieder in den Frühdienst zu starten. Zwei freie Tage, die ich mit Nichtstun verbracht hatte, lagen hinter mir und so war mein Tatendrang schon am Vorabend ins Unermessliche gestiegen. Immer wieder führte ich den Coffee to go Becher an meine Lippen und trank einen Schluck des mit Milch geweißten, Lebenselixiers namens Kaffee. Paul berichtete von seinem Wochenende. Er war das Gegenteil von mir. Er arbeitete seit dem Ende unserer Ausbildung im Zentral-OP der Klinik. Er konnte es kaum erwarten, den Stationsdienst zu verlassen, und betonte immer wieder wie schön es war, keine Klingelgeräusche mehr zu hören. Was das Einspringen betraf, hatte er seine Prinzipien. Wann immer er gefragt wurde, ob er für einen erkrankten Kollegen einspringen konnte, sagte er ab. „Reicht man ihnen den kleinen Finger, nehmen sie die ganze Hand", begründete er sein Handeln. Außerdem war ihm seine Freizeit heilig.

Schon zu oft hatte er mir vorgeworfen, ich würde nur für meine Arbeit leben, aber nicht arbeiten, um zu leben. Das tat er zweifelsohne. Meist war er zur Mitte des Monats blank, weil er sein Geld in den unzähligen Clubs in Frankfurt auf den Kopf gehauen hatte. Er genoss das Leben in vollen Zügen und war, wenn man es so wollte, die männliche Carrie Bradshaw aus Sex and the City. Mit dem Unterschied, dass er nicht in New York lebte, sondern in Frankfurt am Main. Alles was er suchte in dieser Stadt, war Liebe. Und die fand er oft. Verdammt oft. In Form von Tom, André, dem französischen Austauschstudent Marius und dem amerikanischen Soldaten Anthony. Gefühlt verliebte er sich einmal die Woche und genau so häufig wurde ihm das Herz gebrochen, so das er mit einer großen Dose Eiscreme auf unserer Couch saß und die Männerwelt verfluchte.

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