Es gab viele weitere Aufgaben und Reiseziele. Städte die ich unbedingt gesehen haben musste und es standen einige auf dem Plan, die Nora zuvor bei mir erfragt hatte. Nur London fehlte und ich dachte darüber nach, diese Stadt als mein erstes eigenes Reiseziel hinzuzufügen. Da Amsterdam, Brügge, Rotterdam und Den Haag auftauchten, bot es sich an, das Ganze als Rundreise zu planen. Ich würde in Paris beginnen und mich dann über Belgien in die Niederlande hocharbeiten. Ich wagte es, zu bezweifeln, dass drei Wochen dafür ausreichen würden. Mit meinem Handy in der Hand hatte ich begonnen Reiserouten einzugeben. Meine Mutter besaß einen kleinen Fiat 500 und es gab eventuell die Option auf diesen Wagen zurückzugreifen. Und dann stellte sich schon die Frage meiner Unterkunft. Jugendherberge oder Hotel? In Paris gab es eine große Auswahl von beidem, doch wie sollte man die richtige finden, denn die Bewertungen beschränkten sich meist auf ‚Nahe am Zentrum, super Frühstück.'
Hilfreich waren die Bewertungen nicht. Seufzend legte ich mein Handy beiseite und dachte darüber nach, erst einmal mit Carmen zu sprechen, um meinen Urlaub etwas anders zu gestalten, als ich ihn im Vorjahr eingereicht hatte. Unsere Urlaubsplanung für das kommende Jahr begann immer im September und damals wusste ich nicht, dass ich eine solche Reise planen würde. Wie auch? Ich hoffte, dass die Urlaubspläne ein bisschen Spielraum ließen und Carmen kooperativ sein würde. Ich würde ihr nicht von dem Buch voller Aufgaben berichten, denn das hätte vermutlich nur eine Diskussion über Nähe und Distanz zu folge, die mir bei Nora abhandengekommen war. Alles, was ich mit ihr besprechen würde, war, dass ich meinen Jahresurlaub gerne am Stück nehmen würde. Somit hätte ich dann sechs Wochen Zeit, Frankreich, Belgien und die Niederlande zu bereisen. Es war zeitlich gesehen schon einmal besser, als nur drei Wochen. Vorausgesetzt Carmen ließ sich darauf ein. Ich wusste, wie knapp besetzt unsere Station momentan war, und doch hoffte ich durch mein ewiges Einspringen, bei Carmen ein Stein im Brett zu haben. Ich gehörte nicht zu den Personen, die einforderten oder viele Wünsche zur Dienstplangestaltung einreichten und so hoffte ich darauf, dass mir meine Bescheidenheit zu gute kam.
Den Erdbeerkuchen hatte ich restlos aufgegessen und ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es nach elf war. Ich beschloss, da Paul ohnehin unterwegs war, ins Bett zu gehen und etwas von dem Schlaf nachzuholen, der mir durch die vergangene Nacht fehlte.
Am nächsten Morgen schlief ich recht lange und weigerte mich, aufzustehen. Immer wieder dachte ich, über die Reise nach die mir bevorstand, und wägte immer das Für und Wider ab. Aus finanzieller Sicht musste ich mir keine Sorgen machen, denn ich hatte mir in den letzten Jahren ein beachtliches finanzielles Polster angespart, auf das ich zurückgreifen konnte. Ein Großteil meiner Sorge betraf die Reise, an sich. Ich konnte weder Französisch, noch kannte ich mich in Paris aus. Aber was sollte schon passieren, ich hatte ein Handy bei mir und konnte mich jeder Zeit zu meinem gewünschten Ziel navigieren lassen, auch zu Fuß. Das flüsterte mir meine hoch motivierte innere Stimme.
Diese Motivation war schon zwei Tage später wieder verpufft, als mich der Alltag auf der Arbeit wieder einholte. Es war der erste Dienst nach Noras Tod und es fühlte sich seltsam an, die Station zu betreten. Alles war so vertraut und doch so fremd und es fühlte sich an, als fehlte irgendetwas, oder besser gesagt, irgendjemand.
Als ich an Zimmer drei vorbei kam, traute ich mich gar nicht hinein zu sehen, zu präsent war die Erinnerung an den Anblick, den Nora zum Schluss bot. Als ich dann doch einen Blick in das Zimmer riskierte, das für den nächsten Patienten vorbereitet worden war, sah ich sie vor meinem geistigen Auge im Bett liegen. Ich blinzelte die aufsteigenden Tränen weg und lief weiter zu unserem Schwesternzimmer. Carmen und meine Spätdienstkollegin Anni saßen schon dort und tranken Kaffee.
»Hey«, begrüßte ich sie mit einem Lächeln, das mehr aufgesetzt, als ehrlich war. Wieder hier zu sein bereitete mir Unbehagen, obwohl ich immer gerne auf dieser gearbeitet habe. Doch der Tod von Nora nagte mehr an mir, als ich nach außen hin zugeben wollte.
»Hey, Lou. Wie gehts dir?«
Ich wusste nicht, was mit mir passierte, doch als mir diese Frage gestellt wurde, schossen mir augenblicklich die Tränen in die Augen und ich schluchzte auf und begann bitterlich zu weinen. Die Tränen rannen unaufhaltsam über meine Wange.
Alles was ich spürte, war Erschöpfung und Müdigkeit. Ich war zu müde, um meiner Arbeit nachzukommen.
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Lebe jetzt
RomanceLouisa ist mit Leib und Seele als Pflegefachkraft auf der Palliativstation einer Frankfurter Klinik tätig. Dort hat sie bereits einige Patienten auf ihrem Weg begleitet, doch Nora, eine Patientin die kaum älter ist, als sie selbst, stellt Louisas b...