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Nie zuvor hatte ich eine Patientin auf unserer Station versorgt, die kaum älter war als ich selbst. Zwei Jahre trennten uns und im Gegensatz zu den älteren Patienten, die wir für gewöhnlich versorgten, hatte man in diesem Alter bei weitem kein erfülltes Leben geführt. So viele Momente und Ereignisse fehlten noch, doch unsere neue Patientin würde diese nie erleben. Vielleicht täuschte ich mich aber und sie war mit ihren achtundzwanzig Jahren, verheiratet, vielleicht war sie schon Mutter und stand nun ganz anderen Sorgen gegenüber. In dem Moment, als ich das Zimmer für Frau Weyser vorbereitete, wusste ich nichts über die Patientin, die ich ab diesem Tag betreuen sollte und trotzdem musste ich die ganze Zeit über sie nachdenken. Ich sorgte dafür, dass das Bett einladend aussah, und lüftete das Zimmer. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es bald so weit war und die Kollegen der anderen Station Frau Weyser zu uns brachten. Pünktlich um neun Uhr tauchten sie mit einem Bett auf, in dem unsere neue Patientin lag. Sie wirkte angeschlagen und müde. Ihre grünen Augen musterten mich und ich schenkte ihr ein Lächeln.

»Hi, mein Name ist Louisa, aber alle nennen mich Lou«, stellte ich mich freundlich, wie es meine Art war, vor und wartete auf eine Reaktion ihrerseits.
»Hi, ich bin Nora. Bitte nenn mich auch auch so, wenn man mich mit Frau Weyser anspricht fühle ich mich so verdammt alt und ich bin jünger als ich aussehe! Und außerdem ist Frau Weyser meine Mutter.«

Das nannte ich mal humorvoll schlagfertig. Das Lächeln blieb vorerst auf meinen Lippen.
»Okay Nora, wir bringen dich jetzt nach Zimmer Drei. Das hat eine tolle Aussicht Richtung Park und den Main. Schöne Sonnenauf- und Untergänge gibts gratis oben drauf«, stieg ich direkt in die Vorstellung ihres Zimmers ein und ging voraus. Die Kollegen schoben das Bett in die Richtung, die ich ansteuerte und deutete mit einer Geste an, dass sie das Bett in das Zimmer schieben sollten. Die Akten, die unter dem Kopfkissen lagen, nahm ich an mich.
»Ein Zimmer mit Meerblick wäre mir jetzt lieber, aber man kann nicht alles haben, nicht wahr«, sprach Nora und sah sich in dem Zimmer um.

»Oh, das sind die Zimmer mit mehr Blick, auf der anderen Seite gibts weniger Blick«, legte ich etwas Humor an den Tag und präsentierte meinen kleinen Wortwitz, auf den Nora mit einem herzhaften Lachen ansprang.

»Oh, der war wirklich gut!«
Nach dieser ersten Begegnung, wusste ich, dass die Chemie zwischen uns stimmte. Das Leben war doch manchmal ein Spielverderber, so dachte ich in dem Augenblick unserer ersten Begegnung. Warum musste eine so junge, vor Lebensfreude strahlende Frau eine solche Diagnose erhalten? Und dennoch schien sie das alles mit Humor hinzunehmen. Ein weiterer Kollege kam auf unserer Station an, der das Gepäck von Nora in einem Rollstuhl vor sich her schob. Ich bedankte mich und nahm den Rollstuhl und das darauf befindliche Gepäck an mich. Die Kollegen verabschiedeten sich und dann waren sie schon wieder auf dem Weg zu ihrer chirurgischen Station.

»Willkommen auf der einzigen Station mit Zugang zur Dachterrasse, ich würde sagen, wir packen erst aus und dann zeige ich Ihnen die Station«, stellte ich ihr meinen Plan vor.

»Dir.«

»Was?«, fragte ich verwirrt und sah meine Patientin irritiert an.

»Du warst schon wieder beim Sie. Du hast gesagt ‚Ich zeige Ihnen die Station', richtig wäre gewesen, ‚Ich zeige dir die Station«, wurde ich von Nora korrigiert.

»Okay, wir packen aus und dann zeige ich dir die Station«, versuchte ich es noch einmal, Nora nickte zufrieden und schenkte mir ein Lächeln, das wunderschön war. Die Erkrankung hatte sie sicherlich vollkommen verändert. Auf ihrem von der Chemotherapie kahlen Kopf sah man leichte Stoppeln, die im Sonnenlicht, das in das Zimmer fiel, leicht rötlich schimmerten. Ihre Haut war beinahe so blass wie meine, doch auf ihrem Gesicht hatten leichte Sommersprossen ihren Platz gefunden, die sich vor allem auf Wange und Nase befanden. Es verlieh ihrem Aussehen etwas Freches und passte zu ihrem Charakter, der schon jetzt durchblitzte. Ihr Körper war abgemagert und sie wirkte, so wie sie in dem Bett saß, zerbrechlich, als könnte ein leichter Windstoß sie zu Fall bringen. Einzig ihre grünen Augen verrieten, dass sie für ihr kurzes Leben schon zu viel gesehen und erlebt hatte, denn diese wirkten unglaublich müde und schienen ihrem Alter weit voraus zu sein.

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