Wenn ein Patient starb, den wir über Wochen hinweg betreut hatten, dann ließ uns das nicht kalt. Wir waren professionell genug, um den Angehörigen die Stütze zu sein, die sie in diesen Momenten benötigten, doch in unsere, Inneren trauerten wir mit ihnen und nahmen Abschied. Es kam vor, dass wir ebenfalls Tränen vergossen, aber dies geschah meist im Verborgenen. Als ich an dem Morgen wieder zum Frühdienst erschien, ahnte ich noch nicht, was geschehen war. Erst als ich in die Gesichter von Jens und Claus blickte, die Nachtdienst hatten, erkannte ich, dass etwas geschehen sein musste. Zunächst dachte ich, Herr Reinbachs Zustand hätte sich verschlechtert, denn es ging ihm seit ein paar Tagen nicht sonderlich gut.
»Frau Schmiedt ist gestorben« durchbrach Jens schließlich die Stille und er sah mir an, dass ich zwischen Unglaube und Verwunderung schwankte. Mir kam der Moment vom Vortag in den Sinn, der Tanz, den ihr Mann zu Frank Sinatra mit ihr tanzte. Ihr letzter Tanz. In dem Moment musste ich mich zusammen reißen und versuchte mich mit dem Eingießen einer Tasse Kaffe, abzulenken.
»Wann?«, wollte ich wissen und sah meine Kollegen abwechselnd an.»Es ging recht schnell, es war gegen ein Uhr heute Nacht«, beantwortete Claus meine Frage. Ich gab einen Schuss Milch in den Kaffee und rührte mit einem Kaffeelöffel in dem heißen Getränk. In der Mitte bildete sich ein Strudel, den ich regelrecht anstarrte und der mich mit hinabzuziehen schien.
»Und Herr Schmiedt?«
»Er ist noch bei ihr. Wir lassen ihm Zeit sich zu verabschieden«, sagte Jens.
Es war wichtig, Abschied zu nehmen. Es half, dabei zu begreifen, dass die geliebte Person nicht mehr bei einem sein würde und wir gaben den Angehörigen meist alle Zeit der Welt. Ich wusste, meine Kollegen hatten Frau Schmied einen würdigen Abschied bereitet. Sie hatten sie ein letztes Mal gepflegt, vielleicht sogar mit ihrem Mann zusammen und sie dann gebettet, damit Abschied genommen werden konnte. Schon in meiner Ausbildung hatte ich eine Geste immer konsequent durchgezogen und glaubte fest daran. Wenn ein Patient gestorben war, öffnete ich das Fenster des Zimmers, damit die Seele diesen Ort verlassen und frei sein konnte. Es war ein schöner Gedanke, dass die Seele nicht länger an diesem Ort bleiben musste, an dem dieser Patient so viel Leid und Schmerz erfahren hatte. Und ich wusste, meine Kollegen taten dasselbe. Frau Schmied war frei. Sie war frei von Schmerz und Leid. Nur ihr Mann war noch hier. Sein Leben ging weiter und ich wusste, er würde es seiner Frau zuliebe weiter leben.
Nach und nach trudelten meine Kollegen für den Frühdienst ein. Maggie und Jana setzten sich. Anne gesellte sich zu uns und meine Kollegen Jens und Claus begannen mit der Übergabe. Bis auf den Tod von Frau Schmied gab es keine Besonderheiten. Alles war wie am Vortag und doch bereitete ich mich auf meinen schweren Gang vor.
Ich betreute Frau Schmiedt, seit ihrer Aufnahme auf unserer Station. Ich musste Herrn Schmiedt aufsuchen, ihn weiterhin unterstützen. Kein leichter Gang und es fiel oft schwer, die richtigen Worte zu finden, ich wollte auch nicht bei jedem Angehörigen dasselbe sagen. Mir war es ein großes Anliegen, die Individualität zu wahren, auch im Tod.
»Ich gehe dann mal zu Herrn Schmiedt«, sagte ich und erhob mich von meinem Stuhl, nachdem die Übergabe vorüber gewesen war.
»Ist gut, wir fangen schon mal mit der Pflege an«, entgegnete Maggie und ich nickte stumm. Dann machte ich mich auf den Weg zu Zimmer Nummer drei. Dem Zimmer von Frau Schmiedt.
Wieder erklang das Lied von Frank Sinatra, als ich mich dem Zimmer näherte, und offensichtlich verbanden sie etwas ganz besonderes mit diesem Song. Leise betrat ich das Zimmer und schwieg zunächst. Ich fühlte mich wie ein Eindringling, der diesen privaten Moment störte, obwohl es zu meinen Aufgaben gehörte. Herr Schmiedt saß auf der Bettkante, hielt die Hand seiner verstorbenen Frau. Auf dem Nachtschrank stand ein Hochzeitsfoto und eine LED Kerze stand flackernd daneben. Natürlich wäre eine echte Kerze schöner gewesen, doch das ging in einem Krankenhaus aus Sicherheitsgründen und Brandschutzauflagen nicht.
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Lebe jetzt
RomanceLouisa ist mit Leib und Seele als Pflegefachkraft auf der Palliativstation einer Frankfurter Klinik tätig. Dort hat sie bereits einige Patienten auf ihrem Weg begleitet, doch Nora, eine Patientin die kaum älter ist, als sie selbst, stellt Louisas b...