Kapitel 30

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„Jake!", schrei ich. Mein Herz pocht immer noch. Doch es beruhigt sich, als ich bemerke, dass ich auf der Lichtung bin. Ich muss eingeschlafen sein.
Mein Blick fällt auf die zwei zerfallenen Bäume. Das war kein Traum. Sie sind wirklich weg.
Sie haben mich verlassen, als wäre es das Leichteste auf der Welt. Sie wussten, wie sehr ich leide, und sind trotzdem gegangen. War ich ihnen wirklich so wenig wert?
Ich greife meine Kette. Wie konnten die beiden das nur tun? Sie haben mich alleine gelassen und sich nicht erklärt oder verabschiedet. Aber.. eigentlich hatten sie lebe wohl gesagt: mit dieser blöden Kette. Ich reiße die Kette von meinem Hals und schmeiße die Richtung der Bäume.
Was hält mich noch hier? Wie kann ich weiter ein normales Leben führen? Das einzige, was jetzt noch wichtig für mich ist, ist Lexa zu finden.
Ich sollte zuerst den Zeichnungen von Lexa folgen. Den Glasbaum hatte ich zerstört. Aber die Kette! Ich gehe zu den Bäumen, um die Kette zu mir zu nehmen. Der Rest ist in meinem Zimmer.

Ich mache die Haustüre hinter mir zu. Mom schläft auf dem Sofa. Ist es ihr überhaupt aufgefallen, dass ich nicht da war? Würde es ihr auffallen, wenn ich komplett verschwinde?
Ich lege die Kette auf mein Bett und greife nach der Kiste mit dem Tagebuch, dem Schlüssel, die andere Kette, die Pistolen und die gemalten Bilder von Lexa.
Nun habe ich zwei identische Ketten. Was mir bestätigt, dass dieses Tagebuch zur anderen Seite gehört. Zwei Dryaden Ketten. Ob Mom zur anderen Seite gehört? Jake meinte in meinem Traum ich gehöre auch zur anderen Seite. Der Traum.. Er war so real und dennoch nur ein Traum. Ich fühlte mich lebendig und das verwirrt mich.
Wenn Feen, Dryaden und alle anderen Wesen einen Weg haben, wie sie von der anderen Seite auf diese Seite kommen, muss es sicherlich einen Weg geben, wie man von hier auf die andere Seite gelangt.
Der Wecker beginnt zu kingeln. Ich schrecke auf und drücke wie gewohnt auf ihn. Ich habe noch Zeit mich herzurichten und in die Schule zu gehen. Die Wahrscheinlichkeit dieses Schuljahr zu bestehen, beträgt 15%. Doch es kann eine gute Ablenkung sein.

Auch wenn ich sie nicht sehe, spüre ich wie die Blicke an mir kleben, während ich den Gang entlang laufe. Sie warten nur darauf, dass ich eine Reaktion zeige. Dass ich anfange zu weinen, ausraste oder gar zusammenbreche. Vielleicht übertreibe ich, doch wie könnte ich nicht, eines der Top-Gesprächsthemen sein? Der Vater tot. Die Schwester verschwunden. Die besten Freunde ‚weggezogen'. Und natürlich nicht zu vergessen, die Sache mit Jake und Zac, die mich nicht sehr beliebt bei vielen Mädchen machen.
Vorhin hatte ich zwei Mädchen reden hören, die meinten, dass Liv und Mia weggezogen sind. Sie hatten recht. Sie sind weggegangen.
Auch wenn ich zu spät komme, ist noch kein Lehrer da. Da die Sporthalle für das Spiel vorbereitet wird, bekommen wir Vertretung. Nach einer Weile kommt Mr. Eneris ins Zimmer, entschuldigt sich für die Verspätung und fängt mit Mathe an.
Ich lasse meinen Blick umherschweifen und er bleibt am Fenster hängen. Der Himmel ist dunkel, als würde er sich meiner Gefühlslage anpassen. Ich hasse dieses Gefühl. Ich bin hier, aber irgendwie auch nicht. Ich fühle nichts und gleichzeitig fühle ich alles. Es ist schmerzend.
Bevor ich mich wieder dem Unterricht widme, schenke ich Liv noch ein Lächeln. Ich sollte wirklich auf-... Liv? Ich schaue wieder zu ihr. Sie hat ihre Haare zu einem Zopf zusammengebunden und trägt, auch wenn es für diese Jahreszeit untypisch ist, einen Schal. Sie sitzt zwei Tische weiter und schaut zu Mr, Eneris. Sind sie doch nicht gegangen? Das verstehe ich nicht. Ihr Bäume sind doch zerfallen? War das auch ein Traum?
„Liv", sage ich.
Sie schaut zu mir. Ich wende meinen Blick kurz von ihr ab, da viele Stühle anfangen zu knirschen und dann ist plötzlich alles still. Ich schaue wieder zu Liv, die nicht mehr da sitzt.  Sie ist nicht hier. Ich habe mir das eingebildet?
„Freak", höre ich ein Mädchen husten.
„Leise! Wir machen weiter mit dem Unterricht.", versucht Mr. Eneris das Lachen zu bekämpfen.
Ich greife nach meinem Mäppchen und nach meiner Tasche und gehe zur Tür. Ich weiß nicht was mehr weh tut. Dass ich mir eingebildet habe sie ist hier oder das jetzt alles denken ich bin verrückt.
„Kylie!"
Ich drehe mich um und sehe wie Mr, Eneris die Tür hinter sich zu macht und auf mich zu kommt.
„Das ist das zweite Mal, dass du aus meinem Unterricht rausgehst. Gefällt dir mein Unterricht nicht?" Er lächelt beruhigend, „es tut mir wirklich leid. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was du durchmachst."
„Mir geht es gut.", sage ich.
„Wenn du dich nicht selbst davon überzeugen kannst, wie willst du andere davon überzeugen?"
Ich schweige.
„Das ist nicht ganz das, was ich eigentlich sagen wollte.", nuschelt er vor sich hin, „Manchmal sollte man sich überlegen, ob man die Seite umblättert oder ein neues Buch beginnt."
„Was ist, wenn es kein anderes Buch mehr gibt."
Er lächelt und sagt: „Nicht das Leben gibt dir so und so viele Bücher. Du selber kannst sie nehmen. So viele wie du brauchst."
„Ja...", sage ich und drehe mich um.
Er hält meinen Arm fest und sagt: „Ich möchte, dass du dir Hilfe holst."
Es klang wie ein Befehl. Wieso denkst er, er könnte mir etwas befehlen. Wer denkt er, wer er ist. Mein Vater? Ich habe keinen mehr. Keine Mutter, keine Schwester und keine Freunde. Doch in seinen Augen sehe ich sorge und etwas Wut. Ich nicke und er lässt mich los.

Heute ist weit und breit niemand zu sehen. Keine Kinder auf der Rutsche. Keine Eltern auf den Bänken. Niemand. Wahrscheinlich ist es noch zu früh. Außerdem sieht es auch so aus, als würde es bald regnen. Die Musik durchströmt meinen Kopf, wie Wasser einen Fluss. Ich mache sie lauter. Ich möchte meine Gedanken nicht hören.
„Ich wusste, dass ich dich hier finden werde.", höre ich eine leise Stimme neben mir sagen.

Heartbeat - The other sideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt