Kapitel 24

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Ich nehme einen Bus früher, damit ich niemanden sehen muss. Entspannt höre ich Musik und schaue die Straßen an. Am liebsten wäre ich zuhause geblieben. Aber ich kann nicht so sein wie Mom. Einer von uns beide muss der Erwachsene sein.

„Hey Kylie, darf ich dich begleiten?" Jake taucht plötzlich neben mir auf, als ich auf den Weg ins Klassenzimmer bin. Ich nicke.
„Wie geht es dir?", fragt er
Scheiße. „Gut"
„Wirklich?"
Nein. „Ja"
Er stellt sich plötzlich mir in den Weg. „Ich hab das mit deiner Schwester gehört und ich-"
„Bitte nicht. Ich möchte jetzt nicht reden."
„Du musst mit jemanden reden. Wenn nicht mit mir, dann mit Liv oder Mia oder deiner Mom."
Woher will er wissen, dass ich das nicht schon gemacht habe? Ich habe es nicht gemacht. Aber wie kann er das wissen? Sehe ich so verschlossen aus?
„Jake bitte", bitte ich und gehe an ihm vorbei. Weit komme ich nicht, denn er hält mein Handgelenk fest.
„Ich bitte dich. Auch wenn ich zu weit gehe. Rede mit jemanden. Stoß nicht alle von dir." Er lässt los. Gibt mir noch ein ‚Alles wird gut'-Lächeln, dreht sich um und geht.
Ich laufe ins Klassenzimmer und setze mich neben Liv. Sie lächelt nur und dafür bin ich dankbar.

Den ganzen Unterricht zeichne ich in meinem Heft, bis Mr. Eneris sagt: „Wie lebt man richtig?". Jetzt hat er meine volle Aufmerksamkeit.
„Was heißt Leben überhaupt? Und ab wann lebt man ‚richtig'", fragt er die Klasse, „Wenn man nur liebt? Wenn man nicht hasst?"
Alle schweigen und überlegen.
„Das Leben ist ein ständiges Wechselspiel: Im Leben liebt man, im Leben hasst man. Man erfährt Freude, aber auch Schmerz. Ohne diese Gegensätze, ohne das Auf und Ab, würde das Leben seine Bedeutung verlieren. Beantwortet das ihre Frage?", die letzte Frage richtet er an ein Mädchen in der ersten Reihe. Sie nickt ihm zu.
„Es ist einfach. Einfacher als der Tod. Deswegen haben viele auch Angst vor dem Tod.", sagt Mr. Eneris und wendet sich zur Tafel. Bevor er weiter machen kann, sage ich: „Nein." Nun liegt die Aufmerksamkeit auf mir.
„Was meinen sie mit ‚Nein', Miss Turner?"
„Der Tod ist einfach. Ich meine, sterben ist einfach. Alles was um dich herum geschieht, stoppt einfach. Aber wenn Menschen, die dir nahe sind, sterben, dann lebst du trotzdem weiter. Deswegen ist sterben leicht und das Leben schwer. Weil man mit dem Schmerz weiter leben muss."
Alle blicken zu mir, doch niemand sagt ein Wort. Vielleicht haben sie Mitleid, wegen Lexa und denken, ich sage das wegen ihr. Womit sie nicht ganz unrecht haben.
„Das ist eine interessante Theorie, Miss Turner", sagt Mr. Eneris. Dann wendet er sich zur Klasse und fragt: „Hat noch jemand eine?"
Am liebsten wurde ich sagen, dass meine Ansicht keine Theorie ist, sondern die Wahrheit.
Im Augenwinkel kann ich sehen, wie jemand eine Hand hochhält. Zac.
Zac war der einzige, der in der letzten Woche zu mir nach Hause kam und wissen wollte, wie es mir geht. Keine Ahnung wie er rausgefunden hat, wo ich wohne, aber es war auf einer seltsamen Art und Weise angenehm mit ihm. Er meinte ich muss nicht reden. Und dann hatte ich wirklich lange in seinen Armen geweint. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich jemals mich so verletzlich gezeigt hatte. Aber er war so ruhig und vertrauenswürdig und verständnisvoll, dass es mir nicht unangenehm war.
Jedoch könnte ich dies niemals vor Liv oder Jake sagen. Ich hasse Geheimnisse. Doch dieses tat mir gut.
„Ja, Mr. Parker?"
„Sie hat recht. Das Leben ist nicht immer leicht.", fängt er an. Dann blickt er zu mir und sagt: „Aber wurde dir das Sterben leichtfallen, wenn du genau weißt, dass du jemanden zurücklässt, der dich bedingungslos liebt. Diese Person wurde so fühlen wie du- wie du gesagt hast. Kannst du damit guten Gewissens sterben?" Sein Blick liegt immer noch auf mir.
„Also ist nichts einfach?", fragt Mr. Eneris. Er fängt an mehr zu reden, doch ich blende es aus und denke darüber nach was Zac gesagt hat. Er hat recht.

Mia wäscht ihre Hände, während Liv jede Toilettenkabine aufmacht, um zu schauen ob sich noch jemand auf der Mädchentoilette befindet.
Mia tauscht einen kurzen Blick mit Liv aus und Liv nickt ihr dann zu. Eine Falle! Mit schnellen Schritten gehe ich auf die Türe zu, bleibt aber stehen, als sich Mia plötzlich in den Weg stellt.
„Was wird das?", frage ich die beiden
„Wir wollen mit dir reden. Du brauchst keine Angst davor haben, deine Gefühle zu zeigen."
„Doch.", gebe ich leise zu, „ich will nicht fühlen. Ich will nicht daran denken. Ich will nicht.. ich will einfach nicht.." Ich lehne mich an die Wand und rutsche nach unten. Sie setzen sich neben mich. Mia nimmt meine Hand.
„Was ist passiert?", fragt sie sanft.
„Nein.. Nein.. Ich kann nicht.. ich..", stottere ich und beginne zu weinen. Ich breche zusammen in wenigen Sekunden.
„Du kannst nicht alles in dich hineinfressen, Kylie. Es wird dich zerstören."
Ich zittere. „Es ist meine Schuld"
„Nein. Das ist es nicht."
„Doch", weine ich, „Es ist alles meine Schuld. Sie ist weg, und ich habe sie dazu getrieben. Hätte ich nur etwas anders gemacht, vielleicht würde sie noch hier sein. Aber jetzt ist es zu spät. Es ist meine Schuld."
Sie schweigen. Ich schlinge meine Hände um
meine Knie und lege meinen Kopf drauf. Ich kann  gar nicht mehr aufhören zu weinen.
„Ich vermisse sie.", schluchze ich, „so sehr."
Sie legen ihre Köpfe auf mich und streicheln über meinen Rücken.
„Alles wird gut. Vielleicht sieht du es jetzt noch nicht, aber du wirst stärker zurückkommen.", tröstet Liv.
Ich will nicht stärker sein. Ich will Lexa zurück.

Heartbeat - The other sideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt