8. ...und knack

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„Wieso, um alles in der Welt, sollte ich damit einverstanden sein, gequält zu werden? Das ist doch krank; ich meine... wer macht sowas?" Karsten war damals der Grund dafür, dass ich mich nicht alleine nach Hause getraut habe. Wann immer ich in den Pausen das Schulgebäude verließ, lauerte er in der Regel irgendwo, um mich anzurempeln; oder mir sogar ein Bein zu stellen.

Zwei Jahre lang gab es immer wieder Auseinandersetzungen zu Hause, weil ich ständig mit aufgeschürften Knien und kaputten Hosen heim kam. Erst, als Familie Gauber wegzog, endete diese schreckliche Zeit und ich erinnere mich noch gut an die immense Erleichterung, die ich verspürt habe. Doch wie vieles aus der Kindheit verblasste die Zeit irgendwann mehr und mehr. Bis heute dachte ich, sie würde mich längst mich mehr berühren.

Aber das tut es, nicht wahr?

„Ja." Dass dieses Wesen meine Gedanken liest, daran muss ich mich erst noch gewöhnen.

Jetzt fällt es dir noch schwer, dich dem Prinzip des gegenseitigen Helfens zu öffnen. Ich unterstütze dich dabei, denn darum bin ich hier.

Ein vielsagendes na danke – verkneife ich mir gerade noch.

Im jetzigen Zustand sind wir die reine Seele. Die Seele ist Liebe. Was uns umgibt, ist Liebe. Der Schmerz und die Angst, die du erlebt hast, sind im Zustand des reinen Bewusstseins nicht möglich.

„Und warum nicht?"

Du fühlst, was ich fühle. Was fühlst du also, wenn du mir Schmerz zufügst?

„Na, wahrscheinlich Schmerz."

Wenn du erwartest, meinen Schmerz zu fühlen, würdest du ihn mir dann zufügen?

Ok, ich verstehe das Prinzip. Trotzdem ist es krank. „Wieso sollte ich dann da runter gehen, Mensch sein und die ganze Scheiße erleben wollen? Warum mache ich das freiwillig mit?"

Du suchst dir die Erfahrungen selbst aus, die du im menschlichen Zustand machen möchtest.

Ich komme mir vor wie ein kleines Kind, das einem Erwachsenen auf die Nerven geht. „Aber WARUM?!?" Ist das nicht ungeheuerlich? Der größte Haufen Kinderkacke, den mir je einer auftischen wollte. Ich denke nicht nur an mich, ich denke auch an meine Mutter und daran, was sie alles durchgemacht hat – wie nah sie manchmal am Abgrund getanzt ist... Ich meine – wie heißt dieses Spiel? Oh, jetzt ist er tot, na dann brechen wir sein Herz doch gleich nochmal...?! Was soll die Scheiße!

Das Seelenwesen lächelt nicht. Es ist einfach nur um mich; geduldig, verständnisvoll. Still.

Irgendwann beruhige ich mich wieder. Ein wenig.

Wonach du suchst, ist immer Liebe. Sie war es immer und wird es immer bleiben. Sie ist das einzige, woran wir wachsen. Sie ist das einzige Ziel. Leid zu erleben, war schwer für dich. Doch es hat dich zu mehr Liebe befähigt.

Wenn ich könnte, würde ich heulen. Wirklich, ich will es. Und das war nur der Anfang! Ist es denn überhaupt wahr? Bisher war ich immer der Meinung, diesen Kerl gehasst zu haben. Ich krame in meinen Gedanken, was übersehe ich? „Ich sehe nicht, wie das stimmen kann? Wie hat es mit Liebe zu tun?"

Etwas in der Energie meiner Umgebung ändert sich, das merke ich sofort. Es ist nicht wirklich so, dass etwas geschieht, sondern etwas ... umfasst meine Gedanken – oder meine Aufmerksamkeit – wie zwei Hände einen kleinen Vogel festhalten würden; und führt sie zurück in mein Leben. Zurück zu Stationen, die mir noch vollkommen klar vor Augen stehen. Manches hatte ich aber auch total vergessen.

Ich sehe, wie ich meine Mutter tröste. Sie ist im Büro gemobbt worden, das hat mich wirklich angepisst. Ich sehe Steffi, die gerade von ihrem Freund verlassen wurde – und wie ich sie im Arm halte während sie weint.

Ich sehe mich meine Mütze an einen Obdachlosen verschenken, der nichts als ein paar Zeitungen besitzt, um sich nachts damit zuzudecken. Dann plötzlich wieder Steffi, als sie ihr Abi verhauen hat und ich ihr Selbstbewusstsein wieder aufbaue. Danach dieser Typ, dem ich eben keine reingehauen habe, obwohl er so ein Idiot war und es meiner Meinung nach verdient hatte.

Und Biene, die ich einfach mit nach Hause genommen habe, als sie nicht wusste wohin.

Aus irgendwelchen inneren Tiefen – oder einer inneren Quelle – erreicht mich plötzlich ein Gefühl des Triumphes; ein Gefühl wilder Freude über all diese wunderbaren Momente. Und ob da Liebe drin steckte!

Leid zu erleben, lehrt uns, es nicht an andere weiterzugeben. Es lehrt uns Verständnis und Mitgefühl; und Mitgefühl ist eine wichtige Erfahrung, die Menschen nur dann machen, wenn sie verstehen, was Leid ist.

Soweit so schwindelig. Ehrlich, mir schwirrt der Kopf vor lauter... Glück, hätte ich es fast genannt. Ich versuche wirklich, auf dem Teppich zu bleiben...

SeelenwegeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt