Seelenwege

12. Schwesterworte

„Vor vielen Jahren, als wir noch zur Schule gingen – in der vierten Klasse, glaub ich - bekam meine Klasse die Hausaufgabe, einen Aufsatz zu schreiben: Beschreibe deinen Helden... Mein Held war damals der Eismann, ich wollte ihn sogar heiraten.

- verhaltenes Lachen –

Am liebsten möchte ich diesen Aufsatz noch einmal schreiben, denn mein Held ist heute mein großer Bruder. Na klar, er hat immer was zu meckern gehabt. Steffi, jetzt wasch dir doch mal das Pink aus den Haaren. Steffi, wann holst du dein Abi nach? Steffi, nicht schon wieder ein Tattoo. Da war er nicht der Einzige, aber er war der Einzige, der es mit einem Zwinkern tat. Ganz egal, was Olli sagte – ich hab eigentlich immer nur eins rausgehört. Nämlich Steffi, ich hab dich lieb.

Mir war immer klar, da wo Olli ist, da ist'ne Couch, auf der ich schlafen kann, wenn mal alles schief geht. Vielleicht... habe ich mich zu oft auf ihn verlassen. Aber das hat mir den Rücken gestärkt. Ich glaube, ich bin nur ausgewandert, weil ich wusste, wohin ich zurückkommen kann. Wenn's nicht klappt, meine ich.

Olli war ein Spießer. Aber er war wirklich mein Lieblingsspießer.

Er fehlt mir so unendlich.

- Tränen –

Wenn er mich jetzt hören könnte, dann würde ich ihm sagen, dass ich endlich mein Abi in der Tasche habe, weil er so ein sturer Esel geblieben ist. Stur, weil er nicht aufhören wollte, an mich zu glauben. Und dass ich ihn liebe... für immer."

Steffi tritt vom offenen Grab zurück und faltet ihr kleines Papier wieder zusammen. Ihr Gesicht ist feucht, als sie leise – so leise, dass nur ich es hören kann – wispert: „Das war nur für dich."

Danke! – hauche ich – ich liebe es!

Da ist es plötzlich, ein kleines, trauriges Lächeln.