Zum wiederholten Male versuchte der junge Mann, sie auf dem Handy zu erreichen. Doch sie hob nicht ab. Er starrte ratlos auf das Display. Was, wenn ihr unterwegs was passiert war? Dieser Gedanke war schrecklich, doch er war nur etwas schrecklicher als andere Gedanken. Dass sie ihn nicht sprechen wollte, zum Beispiel.
„Ich möchte echt mal wissen, was womit ich das verdient habe..." Noch schlimmer die Idee, sie könnte bei ihrem Ex sein. Aber nein, das würde sie ihm doch nicht antun, oder? Was, wenn er ihr vormachte, er werde sich für sie ändern? Würde sie ihm glauben und in seine offenen Arme zurückkehren?
In einem anderen Teil der Stadt ließ sie ihren Kopf auf ihre Unterarme fallen. „Ich bin echt am Arsch. Immer mache ich alles kaputt!" Doch sie war nicht allein, denn seit einigen Monaten gab es Menschen in ihrem Leben, die es gut mit ihr meinten. Henny war so jemand. Wie dankbar sie für Hennys Freundschaft war!
„Quatsch, gar nichts geht kaputt. Denkst du, Olli ist so einer?"
„Du hast ja keine Ahnung. Er ist immer so total im Lot. Und organisiert. Er wird mich fallen lassen."
Henny nahm ihre Freundin in den Arm und sprach ihr leise ins Ohr. „Das wird er nicht, hörst du? Du siehst nicht, wie er dich immer anguckt. Er liebt dich. Der wird das verkraften."
Doch Bianca schüttelte überzeugt den Kopf. „Ich würde das nicht mitmachen, an seiner Stelle. Ich würde machen, dass ich wegkomme..."
„Du bist ja auch nicht Olli. Der hat breite Schultern, der hält was aus. Glaub mir!" So ging es noch eine Weile hin und her. Währenddessen wurde Biancas Blick feucht, doch sie hielt die Tränen entschlossen zurück. Wenn er mich verlässt, dann kann ich immer noch heulen – dachte sie. Doch dass sie ihm würde reinen Wein einschenken müssen, das stand fest.
„Na los. Ich fahr dich jetzt nach Hause und dann sprichst du mit ihm."
Ok, stimmte Bianca insgeheim zu. Wenn er mich dann verlässt, werde ich es überleben. Ich bin jetzt stark genug...oder?
Das ganze sieht erst einmal aus wie ein großes Durcheinander, war es ja auch. Doch Henny brachte Biene in dieser Nacht tatsächlich nach Hause. Es war die Nacht, in der sich viele Fragen auf einmal beantworteten. So viele Fragen...
Biene wollte gar nicht so richtig rausrücken, es war zum Ausrasten. Also bin ich mit ihr vor die Tür, weil wir irgendwann mal festgestellt hatten, dass es sich beim Spazieren am besten redet. Was ich alles erfahren habe, machte mich sprachlos.
Sie hat dir ihr Vertrauen geschenkt.
„Ja! Dabei dachte ich die ganze Zeit, das hätte sie längst getan!" Doch ich musste begreifen, wie verschlossen mein Bienchen eigentlich ist. „..dass ihr letzter Freund sie nicht gut behandelt hatte, das wusste ich. Aber als ich in dieser Nacht von den Grausamkeiten erfuhr, die sie erlebt hatte, wollte ich ihn am liebsten einfach nur finden und ihm wehtun."
Es gibt Sachen, über die macht man sich eigentlich nie Gedanken, bis man irgendwann plötzlich damit in Berührung kommt. Wie es sich anfühlt, jemandem die Faust ins Gesicht zu jagen, das weiß ich. Aber wie um alles in der Welt kann man jemanden seelisch so fertigmachen, wie es dieser Typ mit Biene geschafft hat?
Zuerst scheint er sie auf Händen getragen und ihr die Sterne vom Himmel versprochen zu haben. Ich erinnere mich an Bienes trauriges Lächeln, als sie mir davon erzählte. Aber traurig, weil sie ihm all das geglaubt hat. Doch im Ernst, wer hätte das nicht?!
Nur kam dann alles ganz anders. Sie beschrieb es mir wie eine wahnsinnig langsam kippende Waage. Zuerst ließ er hier oder dort Bemerkungen fallen, mit denen sie nichts anfangen konnte. Eine Weile redete sie sich dann ein, er hätte einen komischen Sinn für Humor. Doch nach und nach wurden die Spitzen dann immer gemeiner und herabsetzender.
Irgendwann fing er dann an, sie vor seinen und ihren Freunden bloßzustellen. Er telefonierte ihr hinterher, fand Möglichkeiten, sie zu überwachen. Er redete ihr immer mehr ein, dass ihre Freunde sich zwischen sie beide stellten, weil sie Biene jedes Glück missgönnten. Dabei machten sie sich einfach Sorgen.
Was ich nie verstanden habe, ist, weshalb sie sich dem nicht entzogen hat? Wie kam es, dass sie all das mit sich hat machen lassen? Ihr muss doch klar gewesen sein, dass ihr dieser Mann nicht gut tat.
Das wurde ihr klar, nachdem sie in euren Freundeskreis hineinfand.
„Ich glaube, sie hat vorher schon begonnen, die Augen zu öffnen. Das muss der Grund gewesen sein, weshalb sie ihn völlig fernhielt von uns."
Und nun sieh noch einmal genauer hin.
Das tue ich längst. Ich kenne Biene nun durch und durch. Und liebe sie dafür nur noch mehr. „Ihre größte Angst war immer, jemand könnte sich in das verlieben, das sie nach außen zur Schau trägt; und sie in dem Moment fallen lassen, wo ihr wahres Wesen offenbar wird. Ihre Schwächen, ihre Vergangenheit. Irgendwie kam sie nie an den Punkt zu erkennen, dass sie liebenswürdig ist. Wenn ich ihr sagte, dass ich sie liebe, hat sie nie daran geglaubt, dass es dabei bleibt." Und mit jedem Ich liebe dich wurde sie immer gereizter.
Wir können im Außen nur das zulassen, das in unserem Inneren bereits existiert. Es läuft immer darauf hinaus, sich selbst zu lieben, gut zu sich zu sein und nachsichtig. Es war nicht deine Aufgabe, sie zu heilen. Heilen kann sie nur die Liebe zu sich selbst.
„Das sagst du so salopp. Aber ich kann sehen, wie schwer es ihr fällt. Die Theorie ist eine Sache. Etwas mit dem Kopf zu begreifen ist eine Sache. Dann ist es im Bauch aber noch lange nicht angekommen!"
Erkenne den Sinn deiner zahlreichen Inkarnationen. Etwas zu begreifen, ist immer ein Anfang.
Um etwas zu verinnerlichen, ist es jedoch notwendig, die Lektion immer und immer wieder zu begreifen. Es ist notwendig, immer wieder zu erleben, dass unsere Erkenntnis eine Wahrheit ist.
Das tun wir manchmal innerhalb eines Menschenlebens; manchmal nimmt es aber auch viele Leben in Anspruch. Jeder geht den Weg in seinem eigenen Tempo.
Bienes Seelenweg. Sie ist auf der Suche nach der Liebe zu sich selbst. „Du hast mir erklärt, dass wir Seelen einander helfen? Wie hätte ich ihr denn helfen können, wenn es nicht meine Aufgabe war, sie zu heilen?"
Ist das denn nicht offensichtlich?
„Nope?"
Verdreht da gerade jemand die nicht vorhandenen Augen?
![](https://img.wattpad.com/cover/47811028-288-k936887.jpg)
DU LIEST GERADE
Seelenwege
SpiritualWenn man bedenkt, wie jung er verstorben ist, nimmt Olli es erstaunlich gelassen, plötzlich im Jenseits zu stehen und sich darüber nicht einmal mehr am Kopf kratzen zu können. Zum Glück ist dort diese altkluge Seele, die irgend etwas zu wissen schei...