16. ...und knack

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Meine Mutter hatte mir längst vergeben.

Aber...

„Ich habe das nie ganz vergessen können. Wann immer ich daran dachte, selbst Jahre später, verursachte es einen Stich im Herzen. Das ist seltsam..."

Du selbst hast dir nicht vergeben.

„Nein, ich glaube, das habe ich nicht." Kaum dass ich es ausspreche, fängt Irma meine Gedanken auch schon ein, legt sich um mich wie Honig um eine wunde Kehle und wärmt mein Inneres. Als sei ich der Junge von damals und sie meine Mutter. Das tut mir unglaublich gut. Endlich kann ich diesen Teil von mir loslassen. Endlich kann ich Vergebung zulassen.

Wieso nur ist das früher so schwer gewesen?

Siehst du, wie wichtig Vergebung für dich ist? Für uns alle?

Ich sehe es nicht nur, ich fühle es mit allem, was ich bin. Mehr noch, ich sehe endlich, weshalb ich diese Erfahrung als so wichtig empfunden habe, dass ich sie unbedingt machen wollte.

All die schlechten Gefühle, die mein damaliges Tun in mir hervorgerufen haben – Schuld, das schlechte Gewissen, Lauter Ängste dass ich nicht mehr liebeswert oder ein schlechter Mensch sein könnte – all dies hat mich damals so tief beeindruckt, dass ich mein Handeln hinterher vollkommen anders ausgerichtet habe.

Seit diesem Heiligabend hatte ich zu meinem inneren Kompass gefunden, der mir eindeutig zeigte, welcher Weg der richtige und welcher der falsche Weg ist. Einmal mein Gewissen entdeckt, kam ich nie wieder dagegen an; es zwang mich immer auf den richtigen Weg zurück.

Wann immer ich morgens aufstand und den Mann, der mir im Spiegel entgegenblickte nicht mochte, war mir klar, dass ich wieder Bockmist gebaut hatte. Und es ging mir erst dann wieder besser, wenn ich den Grund dafür aus der Welt geschafft hatte.

Du hast in diesem Leben einen starken inneren Wegweiser und hohe moralische Ansprüche an dich selbst entwickelt.

„Das ist doch etwas Gutes, nicht wahr?"

Für sich allein trifft das zu. Doch sieh den Zusammenhang, denn du hast eines nicht gelernt.

„...wie ich mir selbst vergebe..."

Hohe moralische Ansprüche ohne Vergebung führen zu Zwang und Härte. Du warst immer wieder hart zu dir, wo du dir stattdessen hättest vergeben sollen. Sei gut zu dir, sei nachsichtig, denn nur du selbst kannst dir Vergebung schenken. Selbst dann noch, wenn andere dir längst verziehen haben.

„Was, wenn der andere mir nicht verzeihen kann? Oder will...?"

Nur du kannst dir Vergebung schenken. Und zwar gerade dann, wenn ein anderes Wesen die Lektion der Vergebung noch nicht gelernt hat. Hier wird es umso wichtiger, dass du selbst gut zu dir bist.

Wir alle stehen auf unterschiedlichen Stufen unserer Entwicklung. Wichtig ist, dass wir nicht im Wettstreit zueinander stehen, sondern sich jeder in seinem eigenen Tempo entwickeln darf. Kann dir ein anderer Mensch nicht vergeben, dann ist er noch nicht so weit. Es ist sein Stand der Entwicklung, akzeptiere es.

Aber du gehst weiter in deinem eigenen Tempo. Das kannst du jedoch nicht, wenn du dich von seiner Vergebung abhängig machst. Es macht mehr Sinn, dem anderen diese Macht über dich zu entziehen, damit auch dieser Mensch sich wieder seiner eigenen Entwicklung widmen kann.

Bitte unterscheide: jemanden aus ehrlichem Herzen um Verzeihung bitten und auf die Vergebung des anderen angewiesen zu sein, ist nicht dasselbe.

Was für ein Vortrag! Ok, an dieser Stelle sei folgendes gesagt:

Wenn mir zu Lebzeiten so jemand wie Irma untergekommen wäre; mit Perlen im Haar, mit Gesundheitslatschen und ein paar fetten Klangschalen im Wohnzimmer – so stelle ich sie mir nun mal vor - um mir eben diese Weisheiten unterzujubeln... ich hätte aber gemacht, dass ich da weg komme! Wahrscheinlich wäre ich direkt zu Jensen marschiert, hätte ein paar Bier gekippt, mir mit ihm das Spiel angesehen und irgendwann über den ganzen Scheiß abgelästert.

Am liebsten täte ich das immer noch.

Aber nur, weil ich die Wahrheit in Irmas Worten sehe. Wahrheit hat tatsächlich ein Gewicht. Und sie wiegt schwer!

Nur wenn wir lernen, gut zu uns selbst zu sein und uns vergeben; nur dann sind wir in der Lage auch anderen zu vergeben. Diese Lektion hat dir deine Mutter angeboten.

Fast erwarte ich, benotet zu werden. Am Thema vorbei, das wird dann wohl eine sechs... Aber nein, mir erklärt sich langsam, wie das hier funktioniert. Irma ist... nun, sie liebt mich, irgendwie... auf eine platonische... asexuelle... mir vollkommen neue Art und Weise. Und ja, das klingt auch komisch, wenn man es nicht laut ausspricht.

„Liebst du mich?" frage ich völlig spontan und Irma zögert nicht.

Das tue ich.

Sie ist unglaublich. Ehrlich, ich mag sie! Auch mit Klangschalen.

„Ich hatte die Lektion über Vergebung wohl nicht so richtig verstanden. Was bedeutet das; ich meine, wie geht es jetzt weiter?"

Wie ich dich kenne, wirst du diese Erfahrung wiederholen wollen. Vielleicht näherst du dich diesem Thema beim nächsten Mal auf dieselbe Weise; vielleicht aber auch auf eine ganz andere.

„Warte mal. Willst du sagen, wir hatten schon öfter miteinander zu tun?"

Natürlich. Ich erwähnte bereits, dass es dein Wunsch war, von mir in Empfang genommen zu werden.

„Aber wieso?"

Wir sind eins.

Ja doch! Dieses Theater hatten wir doch schon. „Aber wieso gerade du und keine der anderen Seelen?" Ob ich an ihrer Stelle auch so viel Geduld mit mir hätte?

Wir helfen einander. Ich helfe dir, die Qualität deiner Erfahrungen, also deinen Seelenweg, zu erkennen. Und du unterstützt mich bei meinem Seelenweg. 

Hab Geduld, alles zu seiner Zeit.

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