31. Bitte

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Ich war noch nie gut im Rätselraten. Und manches erschließt sich mir auch in diesem körperlosen Zustand scheinbar noch nicht so ohne weiteres. Aber so langsam wird mir klar – ich muss Biene finden. Dieses drängende Gefühl, etwas zu übersehen; die unbestimmte Sorge, die ganz am Rande meines Bewusstsein schon die ganze Zeit an mir nagt, endlich kann ich ihr die nötige Aufmerksamkeit schenken. Ich muss.

Ohne dass ich konkret daran gedacht hätte, befinde ich mich mit einem Mal wieder auf dem Friedhof. Mein Grab; es ist wunderschön geschmückt. Der Anblick schockt immer noch.

Wonach suchst du?

„Biene." Es war die ganze Zeit Biene, nach der ich suche; auch wenn mir das erst jetzt klar wird. Seelenplan hin oder her, es gibt einen Grund dafür, dass ich bisher nicht aufgewacht bin; dass ich mich an nichts erinnere, das vor diesem Leben geschehen ist. Dieser Grund ist sie. Ich bin noch nicht fertig hier... Und mit dem Begreifen kommt die Angst.

Reiß dich mal zusammen! – schimpfe ich mit mir selbst und erschrecke mich, als neben mir eine Stimme seufzend meinen Namen flüstert.

„Ach Olli..." Meine Mutter. Sie weint. Lautlos, doch sie lässt es zumindest heraus.

Für einen Augenblick konzentriere ich mich ganz auf ihre Tränen und habe das Gefühl, als könne ich sie vollkommen in mich hüllen; sie mit meiner Liebe und Dankbarkeit wie in einen Mantel hüllen, damit sie es warm hat. Daraufhin seufzt sie erneut, runzelt dann jedoch die Stirn.

„Was ist denn das?" fragt sie und beugt sich zu einem frischen Kranz herunter. Darin liegt ein Umschlag, auf dem Olli steht.

Aufregung überkommt mich, denn ich erkenne Bienes krakelige Handschrift.

Sie ist hier gewesen.

„Ach du liebe... mach ihn auf! Bitte!

Mama, wenn ich nur irgendwie zu dir durchdringe... dann bitte, mach ihn um Himmels Willen auf!" Nein, ich bin nicht so dumm zu glauben, sie könne mich hören. Doch Irmas Worte kommen mir in den Sinn: Wir sind eins. Unsere Energien sind alle miteinander verbunden. Und – verdammt! – ich glaube daran! Ich weiß, dass es stimmt!

„Mach ihn auf! Oh bitte... Mama!"

Bitte!

Bitte!

Mama!

Bitte...

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