43. Hilfe

3.2K 378 4
                                    

Wider Erwarten fühle ich keine Versuchung. Ja, ich könnte sie in Empfang nehmen, wie Irma mich in Empfang genommen hat. Und ganz ehrlich – ich kann mir nichts Schöneres vorstellen als dabei zu sein, wenn alle Ängste und Zweifel plötzlich von ihr abfallen. Mit Biene gemeinsam aufatmen...

Stattdessen fühle ich vor allem eins, nämlich Bedauern.

„Du bist nicht hier hergekommen, in dieses Leben, um es aufzugeben. Mensch Biene – du hast es dir ausgesucht! Du wolltest es, von ganzem Herzen..."

Sie starrt auf ihre blasse Hand mit den langen, schmalen Fingern und dem Medikament darin.

„...selbst diese Angst, dass niemand dich lieben wird. Du hast eine Aufgabe mitgebracht; und bist noch nicht fertig damit."

Mit weit geöffneten Augen hebt sie den Blick in den nächtlichen Himmel und seufzt verzweifelt.

„Mir war es nicht klar, bis ich plötzlich auf der anderen Seite – von all dem hier – stand. Aber jetzt sehe ich es. Wir sind hier, um uns selbst zu erkennen. Wir sind es Wert, geliebt zu werden. Vor allem von uns selbst. Und wir kommen her um das zu begreifen. Denn wir finden in Anderen nur das, was in uns selbst existiert...

Du hast in mir deine Angst gefunden, dass ich dich verlassen habe; dass ich aufgehört habe, dich zu lieben. Dabei stimmt das Gegenteil! Aber du siehst nur, womit du in deinem Inneren kämpfst."

Biene presst das Fläschchen mit den Tabletten an ihren Bauch und krümmt sich, als hätte sie Schmerzen. Warum ist denn weit und breit niemand hier, der mir helfen könnte!

„Bitte... gib doch nicht auf. Es ist ein Leben mit so vielen Erfahrungen – ok, du hast es dir ganz schön vollgepackt und weißt nun nicht, ob du das alles aushältst. Aber ich weiß es – du bist wunderbar. Du bist stark. Und du willst zu dir selber finden...

Es ist ein Leben von vielen. Ja, du kannst jetzt nach Hause zurückkehren und ja, ich helfe dir dann, alle deine Erfahrungen anzusehen – aber ich kenne dich. Du würdest deine Aufgaben mitnehmen in dein nächstes Leben und es dir wieder genauso voll packen. Und du fändest es schade, nicht alles gelernt zu haben, weshalb du hergekommen bist. So, wie ich auch erkennen musste, dass ich vieles nicht begriffen habe..."

Beinahe glaube ich, dass sie mir zuhört; wie sie den Kopf schräg legt und die Augen schließt. Doch plötzlich geht ein Ruck durch ihren Körper und sie trifft eine Entscheidung.

Mit einem Klicken öffnet sich die Flasche und lauter kleine weiße Pillen kullern auf Bienes Handfläche. Ich möchte sie am liebsten anschreien. Mit all meinem Willen und all meiner Konzentration starre ich auf Bienes Hand. Tu es nicht! Das willst du nicht!

Doch ich kann ihr meinen Willen nicht aufzwingen. Sie ist frei zu tun, was sie will. Und mir bleibt nur noch eine Möglichkeit...

„Bitte... wenn mich irgendjemand hört. Irgendeine Seele hier unten... bitte. Hilf mir! 

...Hilfe..."

SeelenwegeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt