11. Mittenmang

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In meinem wirklichen Leben – wie lustig das klingt; als hätte ich ein Doppelleben als Superheld oder so – gab es so vieles, das mir wichtig erschien und woran ich mich festgehalten habe. Meinen coolen Job als IT-Programmierer zum Beispiel. Oder die einfache Tatsache, dass ich in einer guten Gegend wohne. Das hat mich mit Stolz erfüllt; und ich habe meinen Wert daran gemessen, wie schwer mein Bankkonto ist und wohin ich in den Urlaub fahre.

Leuten wie meiner Schwester, war sowas immer völlig egal. Steffi zog nach der Schule raus in die Welt und schickte mir erstmal ein Jahr lang Postkarten aus den USA, wo sie auf irgendeine Band stieß, sich in den Schlagzeuger verliebte und quasi mit ihm im Tourbus lebte. Von meinem Bürostuhl aus habe ich mal schön auf sie herabgesehen. Dabei ... hat sie alles richtig gemacht. Sie hat gemacht, was sie wollte und ihr Herz war dabei Bestimmer.

Meine Sehnsucht ist grenzenlos. Sie zieht mich fort aus dem wunderschönen Weiß, das mir Frieden verspricht; hinaus in die Welt der Farben und Formen, wo Worte missverständlich sind und verletzend. Zurück zwischen die Menschen, die einfach nicht aufwachen wollen; die nicht aufhören können, sich weh zu tun; die es immer noch nicht besser wissen. Zurück zu...

„Oh natürlich, wie klischeehaft ist das denn bitte?!"

Jeder hat schon einmal über seine eigene Beerdigung nachgedacht. Jeder! Aber niemand ahnt, dass er sie auch erleben wird.

Da stehen sie nun und ich mittenmang. Naja, ich habe nicht wirklich einen Körper, aber irgendwie bin ich doch hier und kann ihre spüren, sehe meine Freunde und Bekannte – und weiß sofort, wer wegen mir kam und wer sich einfach nur hinterher durchfuttern will. Einige wischen sich verstohlen die Augen.

Was mich überrascht; und auch ein wenig schockiert – ich fühle keinen Schmerz. Ich fühle... ich weiß nicht, was ich fühle, aber Schmerz ist es definitiv nicht!

Wenn der Körper seine letzte Ruhe findet, hat die Seele längst losgelassen.

Das Bild eines Marionetten-Spielers drängt sich mir auf. Mir gefällt jedoch nicht, wie das aussieht. Aber Irma ist wirklich phantasievoll. Sie zeigt mir einen wunderschönen Strand. Dort sehe ich mich selbst mit den Füßen im Wasser stehen; oder auch hin und her laufen. Unter meinen Fußsohlen fühle ich den Sand. Oder auch Muschelkalk. Hier und da ein paar Algen; dann wiederum Steine...

Du begibst dich nur mit einem Teil von dir ins Wasser, damit dieser Teil fühlen und spüren kann, was er außerhalb des Wassers so nicht vorfindet. Hast du alle gewünschten Erfahrungen gemacht, ziehst du die Füße wieder heraus.

Das klingt sehr nach einer Gebrauchsanweisung für diese gruseligen kleinen Knabberfische, die einem die Hornhaut von der Sohle holen... aber ich verstehe, was sie mir sagen will. Warum bin ich hier? Irgendetwas hat mich hergeführt.

Warum sehe ich Biene nirgends?

SeelenwegeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt