Steffi pirscht sich unsicher an die Brücke im Park heran. Unsicher, weil sie weit und breit niemanden sieht. Doch als sie heraufkommt, findet sie Biene, die mit dem Rücken an die Steine gelehnt dasitzt; den Kopf auf die Knie gelegt und die Augen geschlossen.
Du hast sie geliebt. Sie war ein Teil von dir – wie ich. Jetzt lass mich die richtigen Worte finden.
Steffi kniet sich neben die scheinbar schlafende Frau und legt ihr eine Hand auf die Schulter. Da geht eine Bewegung durch den Körper unter ihrer Hand und Biene hebt im gleichen Moment Kopf und Arme, zieht Steffi neben sich – und beide halten sie einander fest wie zwei Ertrinkende.
Es ist das erste Mal seit meinem Tod, dass meine Schwester ihrer Traurigkeit freien Lauf lässt. Es tut gut, sie beide so zu sehen. Sie wechseln sich dabei ab, die Andere zu halten und zu stützen, zu trösten und in den Armen zu wiegen. Wie zwei Freundinnen, die sich schon ewig kennen. Doch es ist ihr Verlust, der sie eint.
Irgendwann werden Nasen geputzt und Augen getupft. Steffi hat wieder angefangen zu rauchen und teilt schwesterlich mit Biene – so sitzen sie lange auf dieser kleinen, einsamen Brücke. Es sind Momente, die die Einsamkeit in ihre Schranken weisen; heilsame Momente, obwohl keine etwas sagt. Bald erscheinen die ersten Vorboten des nahenden Tages.
„Das letzte Mal, dass ich eine Nacht durchgemacht habe, war in den USA. Aber dort hatte es keinen so schönen Sternenhimmel wie heute Nacht..."
„Seit Ollis Tod habe ich keine Nacht mehr geschlafen."
„Jensen und ich waren in seiner Wohnung."
Biene seufzt und zieht an ihrer Zigarette. „Du sagtest was von einer Nachricht. Wie meinst du das?" Da bin ich aber auch gespannt. Schließlich habe ich Biene keinen Brief geschrieben oder so. Doch statt etwas zu erwidern, holt Steffi die kleine Schatulle mit dem Ring hervor, den ich gekauft hatte... dem Verlobungsring – und legt sie in Bienes Hände.
Für einen Moment finde ich mich in einer Kreditkarten-Reklame wieder: Der Ring, 300 Euro. Bienes Gesichtsausdruck, unbezahlbar! Sie glaubt es nicht, das lese ich ihren Augen ab. Nach und nach jedoch, als Steffi ihr von den letzten Tagen erzählt und was sie in meiner Wohnung herausgefunden hat... erlebe ich ein kleines Wunder. Ein Moment des vollkommenen Glücks und der höchsten Wertschätzung, denn genau das empfindet Biene, als sie meiner Schwester sprachlos und mit feuchten Augen folgt. Nach und nach höre ich ihre Gedanken und sehe ihr Herz heilen – und weiß, jetzt wird alles gut.
Die Beiden sehen dem nächsten Morgen entgegen. Vielleicht noch nicht vertrauensvoll, aber auch nicht einsam. Mein Herz tut einen Satz. Meine ganze Existenz erschauert. Mein Vertrauen ist grenzenlos, meine Liebe unendlich.
„Ich liebe euch..." sage ich zum Abschied.
Und erwache endlich.

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Seelenwege
SpiritualitéWenn man bedenkt, wie jung er verstorben ist, nimmt Olli es erstaunlich gelassen, plötzlich im Jenseits zu stehen und sich darüber nicht einmal mehr am Kopf kratzen zu können. Zum Glück ist dort diese altkluge Seele, die irgend etwas zu wissen schei...