42. Abwege

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Der frühe Abend liegt schon lange hinter uns und es ist längst dunkel. Doch Biene ist immer noch unterwegs. Wenn ich mich anfangs noch fragte, wohin sie wohl will, so steht inzwischen fest, dass sie es selbst nicht weiß. Eigentlich irrt sie umher.

Ihr Gedankenspiel beunruhigt mich; ebenso wie die Tatsache, dass sie scheinbar den ganzen Tag weder gegessen noch erwähnenswert getrunken hat. Sie ging weder einkaufen, wie sie sich eigentlich vorgenommen hatte, noch kam sie überhaupt in die Nähe der Wohnung ihrer Eltern.

Nach ein paar Stunden ließ ich es bleiben, auf sie einzureden. Es machte keinen Unterschied. Stattdessen sah ich ihr zu, als sie schnurstracks in ein Wohngebiet marschierte und hörte ihre düsteren Gedanken. Als sie zu qualvoll wurden und Biene es leid war, sich die Schuld für alle unmöglichen Dinge zu geben, schlug sie plötzlich einen Haken und lief in eine vollkommen andere Richtung – als könne ein anderer Weg zu anderen Gedanken führen.

Das wiederholte sich einige Male, doch am Ende lief es immer auf dasselbe hinaus – sie riss sich das Herz wieder und wieder aus der Brust; um sich zu strafen. Und es will nicht in meinen Kopf... ich meine - ich bin gestorben. Niemand konnte etwas dafür. Biene am allerwenigsten. Und doch sehe, höre und erlebe ich es.

Bis mir irgendwann – im Laufe der Nacht – klar wird, dass dieser Schmerz leichter zu ertragen ist, als der andere. Schuld trägt Biene irgendwie leichter als das Gefühl der Wertlosigkeit, das tief in ihr wohnt. Nun bricht es mit aller Macht hervor, als hätte es nur auf diese Momente der Trauer und Schwäche gewartet.

Ungeliebt sein; verlassen worden sein... das sind ihre Ängste – etwas zerrt an mir und da ist es wieder; das Wissen, welches hinter mir lauert und mich anspringen will.

„Nein!" bestimme ich – „Ich kann noch nicht aufwachen! Halt mich fest, Biene!" Ich muss mich irgendwo in ihr festkrallen, damit es mich nicht fortzieht. Und nur mit größter Konzentration kann ich meinen Willen durchsetzen.

Trotzdem durchfahren mich Wellen von etwas Wunderbarem; es lockt mich; es ruft nach mir und fast weiß ich, dass es keinen Unterschied macht – loslassen oder bleiben, denn dies ist nicht mehr mein Seelenweg. Es ist Bienes Weg und sie wird ihm folgen; so, wie sie es sich vorgenommen hat. Sie wird ihre Entscheidungen treffen und irgendwann erleben, was ich erlebe... Beinahe lasse ich los. Beinahe gebe ich mich dem Vertrauen hin, das ich spüre –

Es wäre so leicht... es sah so leicht aus bei ihm...

...als Bienes Gedankenwelt mich schlagartig wieder fest im Hier und Jetzt verankert.

Sterben ist leicht. Wo habe ich das schon mal gelesen...

Ich überlege fieberhaft, ob es das ist, was ich denke, das es ist. Dabei weiß ich es längst.

Vielleicht ist er ja noch irgendwo und ich kann ihn finden...

Seit ich sie gefunden habe, lausche ich schon diesen leisesten ihrer Gedankensprünge. Nur habe ich die Augen davor verschlossen.

...und ihn um Verzeihung bitten...

Fassungslos sehe ich zu, wie Biene über die Brücke läuft, auf der ich sie zum ersten Mal umarmt habe; wie sie sich auf das Geländer setzt und das erste Mal seit Stunden ihre Beine ausruht.

Und wenn ich ihn nicht finde? Wenn da nichts ist?

Wie sie etwas aus ihrer Tasche zieht – eine kleine Flasche mit vielen Tabletten darin. Schlaftabletten.

Auch gut. Im Nichts wartet auch kein Schmerz mehr...

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