19. Kern der Dinge

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 Das blöde an Diskussionen mit Irma ist, dass man mit ihr nicht diskutieren kann. Zu keiner Zeit benimmt sie sich mir gegenüber weniger nachsichtig, weniger rücksichts- oder liebevoll. Und sie hat auf alles eine Antwort. Im Grunde führe ich mit ihr ein Interview, auf das ich mich schlecht vorbereitet fühle. Aber sie gibt mir das Gefühl, als sei jede Frage willkommen und als hätten wir alle Zeit der Welt.

Wahrscheinlich stimmt das sogar.

„...aber es stimmt nicht, dass ich anderen nicht vergeben konnte. Das habe ich, oft. Wenn mich jemand versetzt hat – was bei Jens eigentlich immer vorkam; wenn mich jemand beleidigt hat oder angelogen. Es fiel mir sogar leicht, zu verzeihen."

Vergebung kann nur dort geschehen, wo wirklicher Schmerz zugefügt worden ist; körperlich oder seelisch.

So läuft das schon die ganze Zeit. Ich stelle konkrete Fragen zu meinem Leben und bekomme scheinbar allgemeine Antworten, die mir das Universum erklären sollen. Und dann brauche ich immer etwas Zeit – witzig sowas zu sagen in einem zeitlosen Zustand – mir die Antwort zu übersetzen.

Wenn du von deinem besten Freund versetzt oder auch beleidigt wurdest, fühltest du dich dadurch verletzt? Oder ungeliebt? Oder herabgesetzt? Hattest du dadurch das Gefühl, zu weniger Liebe für ihn fähig zu sein?

„Mal abgesehen davon, dass ich ihm seine Fehltritte noch ewig vorgehalten habe... nein. Er ist eben Jens, so war er schon immer. Aber wenn's drauf ankommt, kann ich mich auf ihn verlassen." Das hat er mehr als einmal bewiesen.

Dann warst du in einem Zustand der Akzeptanz und Liebe für ihn, den du für dich selbst bis zuletzt nicht erreicht hast. Deine Liebe und Freundschaft waren an keine Bedingungen gebunden. Darum konnte er dich nicht verletzen. Also war Vergebung nicht notwendig. Zeige mir jemand anderes...

Abermals gebe ich mich der Strömung hin, die mich zurückführt. Dorthin, wo alles so wenig Sinn machte. Ich beginne, meinen körperlosen Zustand wirklich zu mögen und mich zu fragen, wieso mir nicht schon zu Lebzeiten alles irgendwie laut und grell und kantig vorkam. Doch Irmas Interesse lenkt mich ab von dem, was ich sehe hin zum wirklichen Kern der Dinge.

Diesmal stehe ich nicht mittendrin, sondern wir sehen uns tatsächlich eine Art Film an, denn die Szenen fluten durch mich hindurch und ich darf alles noch einmal erleben. Die Gefühle noch einmal fühlen, die mich jahrelang begleitet haben. Irma zeigt mir das Leben ohne Vater; für mich war es das mehr als für meine Schwester, denn sie war damals noch zu klein, um sich an ihn zu erinnern. Ich hingegen... war unglaublich verletzt, als er mich verließ.

„Sagtest du nicht, er sei keine prägende Person in meinem Leben gewesen?"

Nein, du warst dieser Meinung. Nun sehen wir uns an, weshalb er für deinen Seelenweg doch wichtig war...

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