Ich kenne die Worte schon, bevor Irma sie in mein Bewusstsein schickt; denn sie entsprechen ganz genau dem, was ich fühle.
Es wird langsam Zeit für dich.
Wenn du tot bist, dann wird alles einfacher. Das Verstehen; das Akzeptieren. Tot sein ist irgendwie leicht... Aber du kannst dann eines nicht mehr tun, nämlich die Augen verschließen.
Ja, es wird Zeit für mich aufzuwachen. Denn alles liegt nun offen vor mir ausgebreitet – ich kann sehen, welche meiner Erfahrungen in diesem Leben mich der Liebe, der Vergebung und dem Mitgefühl näher gebracht haben. Für mich selbst als auch für andere. Jetzt erkenne ich endlich, weshalb mein Leben ganz genau so verlaufen ist und nicht anders.
Ich verstehe den Sinn eines jeden Schmerzes und eines jeden schweren Tages und fühle die Dankbarkeit für beides; Dankbarkeit für jede Seele, die an meinem Weg beteiligt war.
Kraft und Zuversicht fließen zurück zu mir; es ist wie das Aufladen eines Akkus. Und ganz allmählich trete ich an die Schwelle – als fehle mir nur noch dieser eine rettende Gedanke, der mir bereits auf der Zunge liegt, jedoch noch nicht vollends greifbar ist. Es braucht nur noch diesen einen kleinen Schritt; es braucht nur noch dieses eine Quäntchen Vertrauen. Und ich will es; ich will es wirklich...
Doch das hieße, ich müsste sie loslassen. Es hieße, dass ich sie verlasse. Nun wirklich.
„Ich kann das nicht... Noch nicht." Irma ist bei mir, wie eine gute Freundin. Selbst jetzt noch spüre ich keinerlei Ungeduld von ihrer Seite; trotzdem scheint es dort eine bestimmte Richtung zu geben, in die sie mich lenken möchte. Nur bin ich noch nicht bereit, ihr dorthin zu folgen.
Was hält dich zurück?
„Da ist noch etwas, das ich tun will. Ich... habe es versprochen..." Woher ich dieses Wissen nehme, kann ich selbst nicht beantworten. Ich habe es versprochen... aber was?
„Wo ist Biene? Bitte sag mir, wie ich sie finde."
Sie verbirgt sich nicht. Das hat sie zu keiner Zeit. Wenn du sie bisher nicht sehen konntest, dann weil du selbst dich daran gehindert hast. Doch nun gibt es keinen Grund mehr für dich, das Wiedersehen zu fürchten.
Habe ich das? Mich gefürchtet?
Vielleicht... ja. Jetzt kann ich sie schmecken. Es ist dieselbe Furcht, die ich auf dem Weg zu ihr gefühlt habe. Meinem letzten Weg. Es ist die Furcht, dass es für uns zu spät sein könnte.
Doch mit ihrem wundervollen Brief fällt nun auch diese letzte Angst von mir ab. Zurück bleibt nur die Gewissheit, in diesem Leben jemanden geliebt zu haben. Wirklich und – am Ende – bedingungslos.
...und sie hat nicht die geringste Ahnung.
Ein Geräusch dringt zu mir durch, eine Art Kratzen. Und plötzlich nehme ich sogar Gerüche war; etwas Beißendes. Universalverdünner und Holz... da wird mir klar, wo ich mich befinde. Ich beschließe, mich dem Bild zu stellen und wende mich dem zu, was ich erwarte – und dort sitzt sie. Auf ihrem Hocker. Und starrt auf die Leinwand...

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Seelenwege
EspiritualWenn man bedenkt, wie jung er verstorben ist, nimmt Olli es erstaunlich gelassen, plötzlich im Jenseits zu stehen und sich darüber nicht einmal mehr am Kopf kratzen zu können. Zum Glück ist dort diese altkluge Seele, die irgend etwas zu wissen schei...