Renée und ich gehen gerne an diesen Ort, um ein bisschen alleine zu sein.
Wir klettern auf einen niedrigen Teil der Mauer, von wo wir eine umfangreiche Aussicht auf das endlose Meer haben.
Der ganze und einzige Kontinent auf Onaria ist von einer Mauer umrandet, die erbaut wurde, um die Bevölkerung vor Gefahren zu schützen. Denn was sich in dem so verlockend schön aussehenden Wasser befindet ist noch unentdeckt.Meine Oma hat mir erzählt, dass die Größe unseres Kontinentes vergleichbar mit Europa bei den Menschen sei.
Obwohl die Erde kleiner als Onaria ist, bietet sie viel mehr Land.
Es gibt dort mehrere Kontinente, nicht nur eine geschlossene Fläche, vom Meer umgeben.
In den Meeren der Menschen gibt es kaum Gefahren. Vielleicht sind unsere Meere ungefährlich, vielleicht tummeln bedrohliche Wesen nur in Unmengen darin. Niemand weiß es.Renée lässt ihre Beine über den Rand der Mauer baumeln, ihr Blick ist verträumt auf das Meer gerichtet. Es erinnert mich daran, dass sie einmal eingeschlafen war und die Nacht in geringem Abstand zum Meer verbrachte. Kaum dass sie von einem Wachen aufgefunden wurde, hat man sie nach Hause gefahren. Den ganzen Morgen schwebte ich in unaufhörlicher Panik um das Leben meiner besten Freundin, denn Renée fehlte nie in der Schule ohne krank zu sein und ohne sich abgemeldet zu haben.
"Lukas und ich..." Ich stocke, als sie interessiert die Augen weitet.
"Ja?", hakt sie sofort nach.
"Wir haben ein Date."
"O Grace, das ist wundervoll.", gibt Renée begeistert von sich. "Ich wusste es. Ich wusste es einfach!"
Ich grinse. "Woher?"
"Du hast seit heute Mittag dieses Funkeln in den Augen. Was wirst du denn anziehen? Wie wäre es mir dem roten Kleid, dass über eine Schulter geht oder das weiße mit der Spitze?"
Sie dreht die Augen nach oben, was sie immer macht, wenn sie fieberhaft nachdenkt. Denn gerade scheint sie in Gedanken meinen Schrank auseinanderzunehmen.
"Das hat noch Zeit", murmele ich schulterzuckend, senke den Blick. Renée legt einen Arm um meine Schulter, zieht mich an sich."Du willst das Date gar nicht.", stellt sie fest, tätschelt aufmunternd meinen Rücken.
"Natürlich will ich dieses Date!", protestiere ich. "Ich habe nur Angst davor, dass danach mehr von mir erwartet wird als ich will."
Renée nickt verständnisvoll mit dem Kopf, wobei ihre Haare auf und ab wippen.
"Gib Lukas eine Chance. Er wird dir zeigen, wie wahre Liebe aussieht. Er wird es schaffen, glaub mir."
Ich schlucke. Ihre Worte lassen mich wie eine schwere Aufgabe für Lukas wirken. Doch bin ich das nicht auch?
Schweigend betrachte ich die Wellen, die leise plätschernd auf Steine treffen. Wie gerne würde ich nur ein einziges Mal meine Füße in das türkisenfarbene Wasser heben, die Kälte meine Beine entlang klettern spüren. Meine Haare vom Meereswind durcheinandergewirbelt, über mir die Möwen kreisend.Meine Vorstellung zerplatzt wie eine Luftblase als ich vernehme, wie Renée in ihrer Tasche fuchtelt und ein vibrierendes Handy hervor zieht.
"O nein!", sagt sie und schaut mich an. "Sorry, ich muss nach Hause. Mein Bruder hat wieder Stress mit meiner Mutter."
Sie verdreht die Augen. Diese Situation habe ich selbst schon mehrmals miterlebt. Thomas will nur seine Hausaufgaben nicht machen oder trödelt so lange herum, bis Renées Mutter endgültig die Nerven verliert.
"Schon okay.", sage ich, während sie die Tasche über ihre Jacke streift.
"Bis morgen." Sie umarmt mich kurz, drückt mir mit all ihrem Schwung dabei die Luft aus meinen Lungen, ehe sie mit einem Sprung von der Mauer gehüpft ist. Ich blicke ihr hinterher, bis ihr schlanker Körper zwischen den Häusern verschwindet.Dann mache ich es mir auf der Mauer gemütlich, strecke die Beine weit von mir, schließe die Augen und höre den unterschiedlichen Geräuschen zu.
Von rechts höre ich Autos und gestresste Geschäftsleute, von links die Wellen des Meeres.
Unbewusst drifte ich in einen Traum, während sich der Himmel über den Dächern blutrot färbt, das Meer wie ein gigantisches Rosenblatt wirken lässt.Ich wache durch einen Regentropfen auf, der auf meiner Nasenspitze landet.
Langsam öffne ich die Augen und schaue in den von Wolken bedeckten Himmel, der noch mehr Regen ankündet. Ich setze mich auf, bemerke mit einem angespannten Rücken meine unbequeme Position zuvor.
Ehe der Regen mich erwischt, schnappe ich mir meine Tasche und steuere auf die Stadt zu.
Währenddessen werfe ich einen Blick auf die Uhr, welche so eben den nächsten Tag ankündigt.
Das bedeutet Ärger von meinen Eltern, auch wenn sie sicherlich schlafen werden, wenn ich nach Hause komme.
Ich beschleunige mein Tempo ein wenig und mache mir die Jacke zu, da mir kalt geworden ist.
Der Wind pfeift mir entgegen und treibt mir die Regentropfen ins Gesicht.
Ich laufe an der schwach beleuchteten Straße entlang, bis ich einen Blick auf meinem Hinterkopf spüre.Sofort drehe ich mich um und schaue nach hinten, doch in dem schwachen Licht der Straßenlaternen kann man nur schemenhaft etwas erkennen.
Ich drehe mich wieder nach vorne und beschleunige meine Schritte.
Schweißperlen rinnen mir über die Stirn, während mein Herz pocht, als würde ich um mein Leben rennen. Die Schritte kommen näher, sind lauter, schneller. Sie hetzen mich durch die rabenschwarze Nacht.Ich rede mir ein, es sei jemand, der es nur eilig hat, doch es raubt mir jeglichen Nerv. Es scheint unmöglich, mich selbst zu belügen. Ich weiß, er hat es auf mich abgesehen und ich weiß genauso,dass ich keinerlei Chance habe.
Dann geschieht das, was ich tief in mir die ganze Zeit befürchtete: Aus dem Augenwinkel vernehme ich ein helles Licht, das wie eine Kugel auf mich zuschießt. Ich verspüre nur einen leichten Windzug, als mich der Stoß des Zaubers in die kleine Seitengasse wirbelt.
Schmerzhaft lande ich auf dem Boden, als sich ein Schatten über mich schiebt. Ich verfluche mich dafür, dass ich nicht zaubern kann. Wie soll ich mich denn nun verteidigen?Angstvoll wage ich es nicht, den Kopf in den Nacken zu legen, um ihm in die Augen zu sehen,stattdessen weiche ich einige Meter zurück. Jedoch hat er mit drei Schritten den Abstand wieder verringert, sodass ich das billige Parfum riechen kann.
"Tasche her!", bellt er mich an.
Ich schüttele den Kopf, froh, dass er es nur auf Gegenstände abgesehen hat.
"Mädchen, ich sagte..."
"Ich weiß, was sie gesagt haben", unterbreche ich ihn und hebe den Kopf. Woher ich den Mut habe, weiß ich nicht, doch ich weiß, dass ich ihm meine Tasche nicht geben darf. Darin ist der Haustürschlüssel und somit könnte er, bis das Schloss gewechselt werden würde, einfach kurz zu Besuch kommen. Mein Handy ist da wohl mein kleineres Problem.Meine Frechheit wird bestraft, das sagt mir mein Bauchgefühl. Als der Schuh des Mannes nach vorne schießt und mich mit dem Rücken auf den Boden drückt, weiß ich, dass ich Recht hatte.
"Gib sie her!", fordert der Mann mit auffallendem Rauschebart, doch ich umklammere nur fester meine Tasche.
Erst als der Schmerz durch meinen Körper jagt, merke ich, dass er mir mit voller Wucht in den Bauch getreten hat.
"Bitte...", wimmere ich und bete, dass er aufhört.
"Sofort!" Seine Stimme schallt wie ein Befehl in der Gasse, es ist ein Befehl.Mit dem anderen Fuß verpasst er mir einen Tritt in die Seite. Das wird ein ordentlicher blauer Fleck werden.
"Mach, sonst endet das hier ganz anders."
Ich verstehe seine Drohung erst richtig, als ich die glänzende Klinge in seiner Hand erkenne.
Es mag waghalsig sein, doch ich hoffe auf Unterstützung. "Hilfe", rufe ich so laut, dass mein Hals brennt.
Der Mann lacht nur und senkt die Klinge in meine Richtung. "Es ist so spät. Wer sollte noch unterwegs sein?"
Noch ein Schrei folgt von mir, doch es ist ein Angstschrei, als ich die kalte Klinge an meinem Hals spüre.
Augenblicklich löse ich den Klammergriff um meine Tasche. Meine Eltern werden mich umbringen, alleine für die Tatsache, dass ich so spät in der Nacht noch unterwegs bin.
"Geht doch." Er greift nach ihr, als ich nahende Schritte vernehme.
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Die zehnte Gabe
FantasyGrace lebt mit ihren reichen Eltern auf Onaria, einem Planeten, der unbekannt für uns Menschen ist. Jeder dort verfügt über eine Gabe, welche Grace jedoch noch nicht entdeckt hat. Mit gerade einmal 17 Jahren weiß sie schon, wen sie in naher Zukunft...