"Sie können jetzt eigentlich wieder gehen."
Ich schaue die Krankenschwester an und bringe nur ein 'na endlich' über die Lippen.
Die letzte Stunde habe ich mich wie ein Versuchskaninchen gefühlt, so toll hat der Arzt mich untersucht.
Im Zimmer angekommen sitzt Steven auf meinem Bett und schaut auf seine ineinander verschlungenen Hände.
"Hey, was ist?", frage ich unsicher und schnappe mir die Tasche, die mir Lukas mit neuen Klamotten vorbeigebracht hat, da mein Vater anscheinend nur traurig zu Hause rumhockt und sich keine Gedanken darüber macht, was eigentlich mit seiner Tochter los ist.
"Du gehst?"
Oh, deshalb so traurig. Aber eigentlich kenne ich ihn ja gar nicht gescheit.
"Ja", ist alles was mir dazu einfällt.
Steven schaut auf.
"Ich hatte nie jemanden, mit dem ich so gut reden konnte", gesteht er mir.
Der Abend gestern mit ihm hat anscheinend nicht nur mir gut getan. Wir haben zuerst einen Horrorfilm angeschaut, dann uns über die netten Ärzte unterhalten, wobei er mir deutlich mehr erzählen konnte, zum Beispiel, dass der Arzt, der mich zu einem Versuchskaninchen gemacht hat, auch 'Adlerauge' genannt wird und das nicht zu Unrecht, und dann haben wir noch Karten gespielt. So toll wie gestern ging es mir schon lange nicht mehr.
"Du kannst mich jeder Zeit anschreiben. Meine Handynummer hast du", sage ich und umarme ihn.
Er lächelt.
"Werde ich, darauf kannst du dich verlassen. Bis... wann auch immer."
"Machs gut."
Mit diesen Worten drücke ich ihn noch einmal und dann verlasse ich das Zimmer und das Krankenhaus.
So, jetzt muss ich zuerst mal schauen, wie ich nach Hause komme.
Mein Dad wird mich nicht abholen, aber das nehme ich ihm nicht übel. Hauptsache er übersteht den Schmerz gut.
Lukas kann mich nicht abholen, da er jetzt noch Gabentraining hat.
Ich seufze. Das heißt wohl Zug oder Bus.
Am Ende entscheide ich mich für die U-Bahn, weil ich das schon immer mal machen wollte, es aber nie durfte. 'Da sind zu viele Normale und Arme!', hatte meine Mutter immer gesagt.
Über mein Handy informiere ich mich, welche Station so nah wie möglich bei mir zu Hause ist, aber die nähste ist zwischen der Schule für die 'Normalen' und der, auf die ich gehe.
Ganz langsam laufe ich die Treppen runter und kaufe ein Ticket, bevor ich mich an das Gleis stelle und darauf warte, dass die U-Bahn kommt.Der Steig neben dem Gleis wird nach und nach immer voller und die Meisten sind wirklich 'Arme'.
Ich steige ein und werde auch gleich richtig zusammengequetscht, weil es so voll ist.
Mir gegenüber steht eine Frau und führt ganz eifrig ein Telefonat.
"Wie bitte? Das dürfen Sie nicht bekannt geben!"
Ich schlucke. Die Frau ist von der Presse, eindeutig.
"Ich sage Ihnen, wenn ich will, dass Sie es veröffentlichen."
Jap, Vermutung bestätigt.
"Ja, zuerst noch geheim halten."
Genau, ein Telefonat in der U-Bahn über hochgeheime Sachen führen. Wer bekommt das dann nicht mit?
"Haben wir Zeugen?"
Mord?
"Schade. Aber..."
Oh, keine Zeugen.
"Nein. Auf keinen Fall. Wie viele sind es denn?"
Was jetzt? Mehrere Tote?
"Ganz schön viele."
Oh nein. Nicht schon wieder ein Amokläufer!
"Ich bin gleich da. Schicken Sie mir schon mal alles, was Sie bis jetzt haben!"
Schade, sehr unterhaltsam.
Die Frau schiebt sich an mir vorbei und eilt aus der U-Bahn.Ich will gerade Musik anmachen und mir die Kopfhörer in die Ohren stecken, als grüne Augen meine finden.
Schnell drehe ich mich um, aber Liam scheint mich schon entdeckt zu haben, da er sich einen Weg zu mir bahnt.
Ich tue so, als würde ich auch zu jemandem laufen wollen und quetsche mich durch die ganzen Leute durch, weg von den grünen Augen. Das Letzte was ich jetzt gebrauchen könnte, wäre ein Gespräch mit ihm.
Doch nach wenigen Metern stehe ich an dem Ende des U-Bahn-Zugs. Ich wusste gar nicht, dass ich so weit hinten eingstiegen bin. Ich seufze und drehe mich um.
Liam quetscht sich noch einmal durch und kommt direkt vor mir zum Stehen.
"Habe nicht erwartet dich hier zu treffen", sagt er und hält sich an einer Stange fest.
"Ich auch nicht, sonst wäre ich wohl kaum eingestiegen", bringe ich über die Lippen und blicke zur Seite. Merkt er nicht, dass mir gerade nicht nach einem Gespräch ist? Ich lasse meinen Blick über die verschiedenen Schuhpaare um uns herum schweifen und verharre bei einem kleinen Mädchen, welches sich mit einer Hand die Tränen vom Gesicht wischt und soeben von ihrer Mutter hoch gehoben wird. Ich beobachte, wie die Mutter ihrem Kind durch die Haare streicht und in ihrer Tasche nach etwas sucht. Als sie dann einen kleinen Stoffteddybären mit großen, schwarzen Kulleraugen hervorzieht, erinnere ich mich daran, wie mich meine Mutter immer in den Arm nahm, wenn ich traurig war. Nachdem ich mich beruhigt hatte, machte sie mir immer einen Gute-Laune-Tee, wie sie ihn nannte. Mittlerweile weiß ich, dass es ein normaler Früchtetee war, dennoch hatte der Tee seinen ganz einzigartigen Zauber, wenn ihn meine Mutter machte.
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Die zehnte Gabe
FantasyGrace lebt mit ihren reichen Eltern auf Onaria, einem Planeten, der unbekannt für uns Menschen ist. Jeder dort verfügt über eine Gabe, welche Grace jedoch noch nicht entdeckt hat. Mit gerade einmal 17 Jahren weiß sie schon, wen sie in naher Zukunft...