Kapitel 58

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"Hallöchen Grace.", lallt Noah, der beste Freund meines Vaters. Oh ne, der ist total besoffen.
"Hey.", murmele ich und drücke mich an dem nach Alkohol stinkenden Noah vorbei.
Steven folgt mir schweigend, als hätte er Angst, dass er verprügelt wird, wenn er etwas sagt.
Ich laufe ins Wohnzimmer und sehe tatsächlich meinen Vater zwischen vielen Flaschen auf dem Boden liegen.
Vorsichtig, dass ich nicht in eine reinlaufe, schiebe ich ein paar zur Seite und gehe zu meinem Vater.
Bei dem ekligen Geruch muss ich mich echt beherrschen, mich nicht zu übergeben.
Ich strecke meine Hand zu meinem Vater aus und rüttel leicht an ihm.
Keine Reaktion.
"Hallo, Dad.", sage ich laut und rüttel noch stärker.

Noah setzt sich auf das Sofa und greift nach einer Flasche. Schnell schnappe ich sie und stelle sie auf den Boden.
"Du hast schon genug getrunken.", sage ich und würde ihm am liebsten eine knallen. Mein Vater hatte erst mit dem Trinken angefangen, als er Noah kennengelernt hat.
"Gracechen. Lass mich doch einfach.", beschwert sich Noah und lehnt sich wankend nach vorne.
"Grace, immer noch.", verbessere ich ihn, weil ich es absolut hasse, wenn man mich Gracechen nennt und stelle die Flasche noch weiter von ihm weg.
Noah kippt vom Sofa und krabbelt auf die Flasche zu.
Hilfesuchend schaue ich zu Steven, der meinen Blick versteht und sich um die letzte volle Flasche hier kümmert.
Meine Aufmerksamkeit gilt dann meinem Vater, der die Augen zwar mittlerweile auf hat, aber nichts kapiert.
"Hallo, Dad.", murmele ich und freue mich, ihn wiederzusehen. Erst jetzt merke ich, wie ich ihn vermisst habe, auch wenn er sich so stark verändert hat.
"Grace?", flüstert er und fängt an zu lachen. "Ich bin tot.", sagt er immer wieder.
"Was? Ach ne, das bist du jetzt aber echt nicht.", sage ich Ernst, aber mein Vater labert weiter von 'Ich-bin-tot'.

"Grace? Wie werde ich den los?", fragt Steven hysterisch und ich drehe mich um.
Bei dem Bild, das sich mir ergibt, kann ich ein Lachen nicht verkneifen.
Steven steht an der Wand und hebt die Flasche über sich. Noah ist direkt vor ihm und versucht vergeblich an die Flasche zu kommen.
Wütend auf Noah stehe ich auf und reiße ihn von Steven weg.
"Noah! Du schläfst jetzt schön deinen Rausch aus, okay?"
"Danke.", murmelt Steven und stellt die Flasche auf den Tisch.
Noah nickt brav und ich bin mir nicht sicher, ob er das bloß nur spielt, aber dann legt er sich einfach auf den Boden und ist wenig später auch schon weg.
"Ich bin tot.", schreit mein Vater begeistert und ich gehe zu ihm.
"Noch zu besoffen.", stellt Steven fest und ich nicke. "Lassen wir sie einfach schlafen."
Leise laufen wir die Treppe hoch und Steven richtet in meinem zweiten Zimmer seinen Schlafplatz für diese Nacht ein.

"Was wollen wir jetzt noch machen?", fragt Steven und lehnt sich an meinen Türrahmen.
Ich werfe einen Blick auf die Uhr.
Sechs Uhr.
"Pizza an der Mauer essen.", schlage ich vor, warte jedoch nicht auf Stevens Reaktion, sondern ziehe ihn mit aus dem Haus. Aber dieses Mal habe ich einen Schlüssel mitgenommen.

Wenig später sitzen wir auf der Mauer, schauen der Sonne zu, die den Himmel in ein wunderschönes orange taucht und essen Pizza.
"Hast du keine Fragen?", frage ich Steven, da ich sehe, dass er Antworten auf das mit meinem besoffenen Vater sucht.
Steven grinst mich an.
"Mhm, doch.", gibt er zu und beißt von seiner Pizza, wobei der Käse sich wie ein Kaugummi in die Länge zieht. "Aber ich weiß nicht, ob du sie mir beantworten möchtest."
Ich schaue auf das Meer und überlege, wo das Ganze angefangen hat.
"Meine Mutter ist gestorben, das weißt du ja.", fange ich an zu erzählen. "Dann hat mein Vater immer wieder Selbstmordversuche gestartet, aber ich habe ihn jedes Mal rechtzeitig gerettet."
Stevens Blick liegt auf mir, aber ich starre auf den mittlerweile roten Himmel, der mich an das ganze Blut erinnert.
"Und er hat sich extrem verändert. Ich erkenne ihn kaum wieder. Er trinkt und ich habe mehrmals schon die Vermutung gehabt, dass er etwas mit anderen Frauen hat."

Steven nickt und ich beiße in meine Pizza.
"Das ist schlimm.", sagt Steven und Mitleid schwingt in seiner Stimmt mit. "Hast du es schon jemandem erzählt?"
Ich schüttele den Kopf.
"Nicht mal Renée und ihr erzähle ich eigentlich alles."
"Du solltest dir Hilfe holen.", rät Steven mir."Und nicht nur so jemanden wie der komische Lukas oder Renée. Du brauchst professionelle Hilfe."
"Nein!", erwidere ich gleich. "Dann komme ich in ein Heim! Und mein Vater in eine Psychiatrie oder so..."
"Stimmt auch. Aber alleine wirst du das sicher nicht lange durchhalten.", bedenkt Steven.
Und er hat Recht. Wenn mein Vater sich noch mal sein Leben nehmen will, werde ich auch nur gestört.
"Es ist kompliziert.", murmele ich und Steven grinst.
"Alles ist kompliziert.", stellt er fest. "Aber in deinem Fall sollte sich dringend etwas ändern."
Vielleicht sollte ich Hilfe holen. Vielleicht sollte ich wirklich mal jemanden sagen, was für Probleme ich zu Hause habe. Aber wen interessiert das schon? Ich will ja auch niemanden da mit reinziehen. Ich will nicht, dass jemand sich wegen mir den Kopf zerbricht.

Die zehnte GabeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt