Kapitel 16

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"Meine Gabe?", flüstere ich und schaue auf das Wasser, das mich ganz umgibt.
Lukas nickt knapp.
"Wasser?", frage ich verwirrt, als würde es gleich zu mir sprechen. "Was ist das denn für eine Gabe?" Die Enttäuschung in meiner Stimme ist nicht zu überhören.
Alle die ich kenne haben so tolle Gaben und jetzt komme ich mit Wasser daher. Super.
Achso, bevor ich es vergesse, Lukas kann Gegenstände bewegen. Das nennt man auch Telekinese.
"Grace, das ist eine wundervolle Gabe." Lukas versucht mich aufzumuntern, doch er scheitert daran. "Du hast eins der vier Elemente."

Stimmt, das ist mir noch gar nicht aufgefallen.
Wenn man es so sieht, habe ich eine tolle Gabe, aber ich würde am liebsten Gedanken lesen, Gegenstände bewegen können oder andere coole Sachen.
Nein, ich habe eines der vier Elemente.

Ich spüre Lukas Blick auf mir und schaue ihn an.
Seine Augen sehen ganz genauso aus, wie das Meer, in dem wir stehen.
"Komm, lass uns zurück gehen. Mir ist kalt", sage ich leise, aber in Wirklichkeit bin ich auf einmal schrecklich müde geworden und sehne mich nach meinem Bett.
Lukas zieht darauf hin seine schwarze Jacke aus und legt sie mir um.

Nein! Ich will schlafen!
Trotzdem zwinge ich mich zu einem Lächeln, nehme seine Hand und laufe ganz langsam aus dem Meer.
Das Wasser weicht vor mir zurück, aber das ist mir egal. Gerade ist nur noch mein Bett wichtig.
"Seine Gabe das erste Mal zu benutzen macht müde", sagt Lukas und lächelt mich an.
Schnell schaue ich auf die Seite.

"Kann sein", sage ich und unterdrücke ein Gähnen.
Wir laufen zur Mauer und schlüpfen durch ein kleines Loch durch, durch das wir vermutlich gerade vorhin gekommen sind.
Im Auto gebe ich Lukas seine Jacke wieder, während er nach Hause fährt.
Wir fahren am Kino vorbei nach Hause.
Ich muss morgen dringend mal schauen, ob es auch in einem Supermarkt Popcorn gibt.

Ich werde aus meinen Popcorn-Gedanken gerissen, als Lukas zu Hause hält.
Ich schnalle mich los und ehe ich mich versehen habe, ist Lukas um das Auto gelaufen und macht mir die Tür auf.
Ich steige aus und schaue ihm in die Augen.

Irgendwie weiß ich nicht genau, was ich sagen soll, weshalb ich einfach darauf warte, dass er etwas sagt, während ich versuche meine vor Nervosität zitternden Hände zu verstecken.
Doch statt etwas zu sagen beugt er sich zu mir hin.
Ich weiß ganz genau, was jetzt kommt, doch ich zwinge mich dazu, es zuzulassen. Dann hat Renée ein hochinteressantes neues Gesprächsthema.

Zentimeter für Zentimeter kommt er mir näher, doch ich bewege mich keinen Millimeter weg oder zu ihm hin.

Mittlerweile ist er keinen Zentimeter mehr von mir entfernt und ich muss mich zusammenreißen, nicht was Dummes zu machen, wie einfach zurückzuweichen.

Doch dann stören uns Schritte.
Wir beide drehen uns zu der Person um, die uns gestört hat. Nicht dass ich mich wirklich beschweren kann.
Ich atme einmal aus und merke erst jetzt, dass ich ganz vergessen habe zu atmen.
Dann mustere ich die alte Dame, die mit ihrem Hund spazieren geht und uns beide noch gar nicht bemerkt hat.

Sie redet mit ihrem kleinen Hund und mustert die Häuser in dieser Straße, woran ich erkennen kann, dass sie zu den 'Armen' gehört. Die 'Normalen' wissen nämlich, wie unsere Häuser aussehen.
Mein Blick gleitet zu Lukas, der mich anschaut und lächelt.
"Die kann mit ihrem Hund auch wo anders spazieren gehen", sagt er.
Ich nicke, bin aber in Wirklichkeit froh, dass sie es nicht macht.

"Das können wir öfters machen", sagt Lukas und ich nicke wieder.
"Es war echt toll", gestehe ich und wünsche mir einfach nur den Lukas, mit dem ich über alles reden konnte und der für mich nie mehr als ein Freund war. Das wird er aber nie wieder sein.

"Das höre ich doch gerne."
Ich lächle.
"Für diese tolle Überraschung hast du es auch verdient."
Obwohl die alte Frau jetzt genau hinter ihm ist, beugt er sich zu mir und gibt mir einen Kuss auf die Wange.
"Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht, Mademoiselle", sagt er leise.
Früher haben wir uns immer aus Spaß mit Mademoiselle und Monsieur angeredet und ich merke gerade, wie gut wir uns doch kennen.
"Ihnen auch, Monsieur", sage ich und gehe auf unser Spiel ein.

Doch die Müdigkeit überrollt mich, weshalb ich einfach auf das Haus zu laufe.
Bevor ich im Haus verschwinde, drehe ich mich zu ihm um und sehe, dass er mich beobachtet.
Ich lächle noch einmal, bevor ich die Tür hinter mir schließe.

Die zehnte GabeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt