Kapitel 25

9.5K 943 28
                                    

Rote Streifen überziehen die Fließen, ein Messer liegt in einer großen Blutlache und mittendrin mein Vater.
Um ihn herum nur Blut.
Panisch trete ich mehrere Schritte zurück und setze mich auf den Boden, da mir gerade echt schlecht ist.
Ich würge, doch es kommt nichts raus.
Auf wackeligen Beinen laufe, oder krappele ich auf meinen Vater zu und fasse ihm an den Blut überschmierten Hals. Das Gefühl von dem Blut auf meiner Hand ist alles andere als angenehm, aber trotzdem taste ich weiter. Bis ich ein Pochen spüre.
Schnell ziehe ich meine Hand zurück und renne aus dem Bad.

"Er lebt", flüstere ich und stütze mich an einem Türrahmen ab, weil ich sonst noch umgekippt wäre.
Mit zittrigen und vom Blut roten Fingern greife ich zum Telefon und wähle den Notruf.
"Notruf. Wie kann ich Ihnen helfen?", fragt ein Mann, der danach noch gähnt. Super, so einen kann ich gebrauchen.
"Ich brauche Hilfe", sage ich mit brüchiger Stimme.
"Tschuldigung, was?"
Das heißt wie bitte, aber egal.
"Ich brauche Hilfe. Mein Vater wollte sich umbringen. Selbstmord." Ich hole kurz Luft und warte auf eine Antwort.
"Aha."
"Was aha?", schreie ich ins Telefon.
"Adresse, wie wär's damit? Kurze Schilderung der Lage? Wer ist betroffen, wie viele? Solche Sachen halt", antwortet der Mann.
Mein Geduldsfaden reißt.
Ich gebe dem Mann alle wichtigen Infos durch und warte dann auf Hilfe, die wenige Minuten später auch schon eintrifft.
Mehrere Krankenwägen sind eingetroffen und dann noch zwei Polizisten. Einer schaut sich das Haus und die gesamte Lage an, während der andere sich um mich kümmert.

"Grace, richtig?", fragt er und setzt sich neben mich auf das Sofa.
Ich schenke ihm einen kurzen Blick, schaue dann aber wieder zum Bad, wo hart gearbeitet wird, damit mein Vater das auch überlebt.
"Er wird es überleben", sagt der Polizist, als hätte er gerade meine Gedanken gelesen.
Ich mustere ihn von der Seite.
"Geht es Ihnen gut?", fragt der Polizist und starrt mich mit dunklen Augen an.
Ich nicke und schaue wieder zum Bad, wo mein Vater gerade ganz schön viele Schläuche angeschlossen bekommt.
Geht es mir gut? Lüge ich nicht, wenn ich sage, dass es mir gut geht? Die Wahrheit ist nämlich, dass es mir alles andere als gut geht.
"Sicher?", hakt der Polizist nach.
Ich schüttele den Kopf und der junge Mann stößt ein Seufzen aus.
"Was denn jetzt? Letzteres oder?"
"Ja, verdammt noch mal. Mir geht es scheiße!", sage ich und senke den Blick.
'Wortwahl!', höre ich meine Mutter sagen.
"Wollen Sie darüber reden?", fragt der Polizist.
Ich schüttle den Kopf.
"Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?"
"Stellen dürfen Sie welche, aber ob ich eine Antwort darauf gebe ist eine andere Sache."
Der Mann lacht trocken.
"Na gut. Wissen Sie, wieso Ihr Vater sich umbringen wollte? Oder können Sie sich es irgendwie erklären?"
Ja, auf beide Fragen. Aber will ich es sagen? Dass mein Vater zerstört und am Ende ist? Das bedeutet dann so viel wie 'Psychiatrie, ich komme!' für ihn.
Ich seufze. Alles nicht so einfach.
Aber theoretisch muss der Mann bloß mal ein bisschen recherchieren, um herauszufinden, dass meine Mum tot ist. Theoretisch. Nicht praktisch!
"Meine Mum ist bei einem Autounfall umgekommen. Vor weniger als einer Woche", sage ich und beantworte die erste Frage indirekt. Den Rest wird er sich denken können.
"Okay. Also wollte er sich umbringen, weil Ihre Mutter..."
"Ja, verdammt", unterbreche ich ihn genervt.
"Sonst gibt es nichts?", fragt der Polizist nach.
Ich schüttele den Kopf.
"Gut, das wars dann eigentlich schon."
"Dad!", rufe ich und stehe eilig vom Sofa auf, als ich sehe, dass sie ihn auf eine Liege gelegt haben und gerade dabei sind, ihn rauszutragen.
"Grace, er kommt nur ins Krankenhaus", beruhigt mich der Polizist.
"Ich will mit", sage ich und laufe den Notärzten hinterher.
"Natürlich dürfen Sie mit", bestätigt der Polizist, der mir nachgelaufen ist.
Ich steige in den Krankenwagen ein und die Ärzte zeigen mir, wo ich mich hinsetzen kann, damit ich nichts versperre.
Die Fahrt dauert nicht lange, aber ich drehe immer wieder durch, weil irgendein dummes Gerät ab und zu anfängt zu piepsen, aber anscheinend ist es nicht so ein komisches 'wenn man tot ist, piepts' Teil.
Im Krankenhaus kommt mein Vater zuerst mal in die Notaufnahme. Ich setze mich auf einen total unbequemen Stuhl in der Wartezone und beobachte eine Mutter mit einem kleinen Kind, die ununterbrochen weint.
Ich will gar nicht wissen, warum sie weint, aber am liebsten hätte ich sie in den Arm genommen und ihr gesagt, dass alles gut wird. Sie sieht todtraurig aus, wie sie da sitzt und ihr Kind krampfhaft festhält.
Die Tür geht auf und ein Arzt erscheint im Zimmer.
"Grace?"
Ich stehe auf und laufe zu dem Mann.
"Ihr Vater hat es überlebt, ist aber noch nicht in der Fassung, jetzt mit Ihnen zu reden. Sollen wir Sie informieren, wenn er aufgewacht ist und mit jemandem reden kann? Wir gehen davon aus, dass das noch mehrere Stunden dauern könnte."
Ich nicke und verlasse in düsterer Stimmung das Krankenhaus.

Jetzt, wo ich ganz gemütlich nach Hause laufe, fällt mir der Laden auf, in dem ich früher immer wieder Tickets gekauft habe. Kommt dann gerade passend, dass ich noch ein Geburtstagsgeschenk für Renée brauche.
Ich betrete den Laden und mir wird augenblicklich warm. Draußen zieht der eiskalte Wind durch die Gegend und hier drinnen wird kräftig geheizt.
Ich laufe zu dem alten Mann und kaufe Karten für Renées Lieblingsband. Dann verlasse ich wieder den Laden und vermisse schon nach drei Sekunden die wohlige Wärme.
Als ich gerade über die leere Straße laufen will, höre ich, wie mich jemand ruft.
Nein, es ist nicht nur jemand. Es ist Liam.
Ich drehe mich um und sehe, wie er mit einem Grinsen auf mich zu läuft.
Und sein Grinsen ist ansteckend.
Er bleibt einen Meter vor mir stehen und mustert mich.

"Du siehst scheiße aus", sagt er.
"Ich fühle mich auch so."
Liam macht einen neugierigen Eindruck.
"Was ist denn?", fragt er und hebt eine Hand, um mir eine Haarsträhne hinters Ohr zu stecken.
Soll ich ihm alles erzählen? Vertraue ich ihm genug, um ihm alles erzählen zu können?
Allerdings wäre es jetzt dumm, wenn ich ihm nicht davon erzählen würde. Ich habe mir doch vorgenommen, darüber zu sprechen und das mit ihm.
"Anscheinend ziemlich viel", sagt Liam und sein Grinsen wird kleiner. "Und es ist ziemlich kalt. Ich will nicht frieren, außerdem ist mein Vater nicht zu Hause. Wir können zu mir gehen, wenn du reden willst."
Ich überlege. Ich will doch die ganze Zeit reden! Jetzt habe ich die Möglichkeit, also sollte ich sie auch ergreifen.
Ich nicke und Liam läuft mit mir zu ihm nach Hause.

Die zehnte GabeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt