"Das sind die Beiden?", fragt der Rektor und verschränkt die Arme vor der Brust. Nervös blicke ich zu Lukas auf, doch er sieht genauso hilflos aus wie ich mich fühle.
"Ähm ja. Obwohl - nein."
"Was denn nun?" Der Rektor wippt mit seinen im schwachen Licht glänzenden Schuhen auf und ab. Ich kenne das von meinem Vater. Ungeduld mit einer Spur von Demütigung für den Gegenüber. Auch wenn er mir einige Stunden meiner Freizeit stiehlt, ich habe Mitleid mit unserem alten Hausmeister."Ich meinte, das Mädchen schon. Aber er nicht", sagt unser Hausmeister und deutet mit einem krummen Finger auf Lukas. "Normalerweise ist da noch ein Mädchen."
"Sie ist krank.", mische ich mich ein, auch wenn ich mich am liebsten unter dem nächsten Tisch verkrochen hätte. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass die ganze Situation nicht gut enden kann.
"Wie auch immer, folgen Sie mir.", sagt der Rektor und zeigt herablassend auf mich, ehe sein Blick zu Lukas schweift." Und ihm geben Sie eine Aufgabe, wenn er schon helfen will."
Der Hausmeister nickt geknickt, dann gibt er Lukas mit einer Kopfbewegung zu verstehen, ihm zu folgen. Ich muss mich beherrschen, nicht seine Hand zu zerquetschen, als der Rektor mich mit einem aufgesetzt freundlichen Lächeln bedenkt. Dann löst Lukas seine Finger aus meinen, schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln, bevor er um die nächste Ecke verschwunden ist.Der Rektor richtet seine Krawatte, dann macht er auf dem Absatz kehrt. Ich will ihm gerade folgen, als ich aus dem Augenwinkel den Jungen von vergangener Nacht bemerke. Er steht mit der Schulter an ein Schließfach gelehnt, gestikuliert wild mit den Händen und scheint in ein angeregtes Gespräch mit einem anderen Jungen vertieft. Ich mustere sein makelloses Gesicht, die sonnengebräunte Haut, welche perfekt auf das dunkelbraune Haar abgestimmt scheint und diese strahlenden grünen Augen. Mit der linken Hand fährt er sich durch das Haar und ich ertappe mich dabei, wie ich mir überlege, ob sein Haar auch so weich ist wie es aussieht.
Dann, als habe er meinen Blick bemerkt, schnellt sein Kopf in meine Richtung, seine Augen fixieren mich, während sich auf seinen Lippen ein Lächeln bildet. Ob es ist, weil er sich freut mich zu sehen oder weil er es amüsant findet, mich beim Starren erwischt zu haben, weiß ich nicht. Aber ich vermute, es ist letzteres.
Ich gebe mir einen Ruck, senke den Kopf und folge dem Rektor, wobei sich ein Blick in meinen Rücken bohrt.
Der Rektor führt mich durch das halbe Gebäude, bis er endlich vor einer Tür zu stehen kommt und sie mir öffnet. Knapp bittet er mich Platz zu nehmen, mehr gezwungen nett als echt."Was denken Sie sich dabei, die Blätter ins Gebäude zu kehren?"
Ich schlucke hart, suche nach entschuldigenden Worten.
"Wir waren uns nicht sicher, wohin die Blätter kommen", gestehe ich, senke den Kopf und betrachte den Holztisch.
Während mir der Rektor eine Standpauke verpasst, schaue ich auf das Holz und gehe in Gedanken alle Baumarten durch die ich kenne, um zu wissen, was das für ein Holz ist.
Am Ende weiß ich es dann trotzdem nicht. Aber ich weiß auch nicht, was der Rektor mir versuchte zu erklären."Haben Sie das verstanden?", reißt mich die Stimme des Rektors aus meinen Überlegungen.
"Natürlich", sage ich, gebe mir Mühe nicht rot anzulaufen, da ich keinerlei Ahnung habe, was er gesagt hatte. Kaum entlässt mich der Rektor zu meiner Arbeit, stürme ich aus dem Raum und versuche mich in einem Labyrinth aus Treppen und Türen zurecht zu finden.Lukas entdecke ich in einem Gang voller Plakate, die Werbung für die Schülerzeitung machen. Dort befindet sich auch eine Reihe Klassenzimmer, deren Fenster von uns geputzt werden sollen. Ich bin vollkommen erschöpft und sehne mich nach meinem Bett als wir beim Anbruch der Dämmerung das Gebäude verlassen.
Auf dem Weg nach Hause trennen wir uns, da ich noch bei Renée vorbeischauen möchte.
Ich will ihn gerade in eine Umarmung ziehen als Lukas auf eine andere Idee kommt. Er beugt sich zu mir, wobei ich total überrumpelt die Luft anhalte, dann spüre ich seine weichen Lippen auf meiner Wange. Mein Herz pocht so schnell als wäre ich eben einen Marathon gerannt. Kaum löst sich Lukas von mir, habe ich den Drang nach meinem Herz zu greifen um mir sicher zu sein, dass es überhaupt noch schlägt, doch Lukas nimmt meine Hände in seine.
"Bis morgen.", murmelt er und ich schließe meine enorme Reaktion auf die Tatsache, dass das für heute mehr Berührungen waren als je zuvor.
"Komm gut nach Hause."
Lukas nickt, dann drehe ich mich um und mache mich auf den Weg zu Renée."Hey!" Renée winkt mich in das Haus, führt mich bis in ihr gemütliches Zimmer. Ich mag das warme, zarte Rot der Wände und die ganzen Zeichnungen aus unserer Kindheit, die ihr kleines Reich so bunt gestalten. "Hast du einen Moment Zeit?"
"Natürlich", versichere ich ihr. Sie streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Das macht sie immer, wenn etwas sie schwer beschäftigt."Mein Vater hat heute meine Mutter angerufen." Ich lege den Kopf schief. Renées Eltern sind geschieden und haben auch nicht viel Kontakt miteinander. "Er sagte, dass ich auch heiraten muss. Aber weißt du was?"
Sie wischt sich eine Träne aus dem Gesicht, schüttelt danach die Hand aus als wolle sie sich befreien. Ich knie mich auf den Boden vor sie und ziehe sie in die Arme. Jahrelang habe ich sie darum beneidet, nicht vorgeschrieben zu bekommen, mit wem sie ihr restliches Leben verbringen muss. Aber nun gehört sie auch dazu.
"Das ist so unfair! Du bekommst so einen tollen Mann und ich einen, der nur auf das Eine aus ist."Ich schließe meine Arme fester um ihren bebenden Körper.
"Jack?", flüstere ich und vernehme eine schwache Zustimmung.
Jack ist wohl die schlimmste Wahl, die ihre Eltern hätten treffen können. Aber bevor die Tränen wie ein Fluss über ihr Gesicht fließen, muss ich Renée auf andere Gedanken bringen."Ich habe gelesen, dass deine Lieblingsband bald in der Stadt ist", sage ich und Renée richtet sich auf.
"Ich weiß. Ich wollte dich eh noch fragen, ob du mit mir da hingehst."
Sie wirft mir einen bittenden Blick zu, doch lange kann ich dem nicht standhalten.
"Aber klar."
Auch wenn die Band nicht ganz meinen Geschmack trifft, werde ich wohl einen Abend von dieser Musik überleben.
"Danke."
Sie wischt sich die Tränen weg und umarmt mich mit einem aufrichtigen Lächeln. Fast, als wäre Jack schon vergessen.

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Die zehnte Gabe
FantasyGrace lebt mit ihren reichen Eltern auf Onaria, einem Planeten, der unbekannt für uns Menschen ist. Jeder dort verfügt über eine Gabe, welche Grace jedoch noch nicht entdeckt hat. Mit gerade einmal 17 Jahren weiß sie schon, wen sie in naher Zukunft...