Eine winzige Sekunde reagiert Liam nicht und ich stolpere einen Schritt zurück, als ich merke, was ich gerade gemacht habe.
Verdammt, ich habe Liam geschlagen!
Dieser greift bloß nach meinem Arm und zieht mich den Gang weiter, weg von der Tür und Ariane, die schon wieder schreit.
"Bitte, Liam. Du kannst doch nicht einfach zulassen, dass sie das machen.", flehe ich, auch wenn ich nicht weiß, was 'das' ist.
Liam dreht sich zu mir um.
"Besser sie als du.", sagt er und ich zucke zusammen.
"Aber sie ist auch..."
"Na und?", unterbricht Liam mich und ich sehe ihn aufeinmal als gefühlloses Wesen vor mir und nicht mehr als den Liam, den ich kennen gelernt, übrigens nicht aus Zufall, wie ich jetzt weiß, und geliebt habe.
Ganz langsam wird sein Blick weicher.
"Grace, wir können nichts dagegen machen."
"Ja, du nicht. Du kannst ja nichts richtig machen. Aber ich kann es wenigstens versuchen."
Erneut ertönt ein Schrei, dann ist alles still.
Das Echo des Schreis hallt noch nach, während ich mich von Liam befreie und auf die Tür zurenne.
"Grace!", höre ich Liam hinter mir rufen, aber ich achte nicht auf ihn.
Mit viel Schwung reiße ich die große Tür auf und stürze auf Ariane zu, die zusammengekrümmt auf dem Boden liegt und schmerzvoll das Gesicht verzogen hat.
"Ariane?", flüstere ich und hoffe, dass sie mich anschaut, was sie dann auch macht.
"Es waren nur ein paar Schläge.", sagt der 'Böse' und grinst mich von seinem Thron aus an.
"Tschuldigung.", murmelt Liam, als er den Raum betritt. "Sie ist mir abgehauen."
Dann packt er mich und zieht mich von Ariane weg, die dann plötzlich nach meiner Hand greift.
Ich knie mich neben sie und muss gut zuhören, während sie ganz leise Worte flüstert.
"Grace, warum bist du noch nicht abgehauen?"
Meine Hand drückt ihre leicht.
"Ohne dich gehe ich nicht.", flüstere ich leise und hoffe, dass nicht mal Liam es gehört hat.
Grinsend schüttelt sie den Kopf, bevor ihr Blick mich fest anschaut.
"Hau ab! Ohne mich!", zischt sie und lässt die Hand sinken.
Liam reagiert sofort und zieht mich von ihr weg.Kaum hat er mich hinter die Tür geschleift, drückt er mich an sich.
"Grace, du tust so dumme Sachen manchmal, aber so was Dummes hast du noch nie gemacht.", sagt er, während ich seinem Herzschlag lausche. "Der 'Böse' war kurz davor dich auch schlagen zu lassen.""Komm, wir gehen in mein Zimmer."
Liam will meine Hand nehmen, aber ich schiebe sie in meine Jackentasche.
Lange laufen wir an vielen Türen vorbei, bis Liam an einer stehen bleibt, die genauso aussieht wie alle anderen.
Mit einem leisen Quietschen öffnet er diese und ein dunkles Zimmer kommt zu Vorschein.
Es ist relativ groß, dafür, dass er die meiste Zeit eh zu Hause ist.
Aber was ist denn eigentlich noch sein zu Hause?
"Bist du öfter hier oder..."
"Unwichtig.", unterbricht Liam mich.
"Also hier.", murmele ich und setze mich ohne Liams Erlaubnis auf das Bett, das rechts steht, wenn man das Zimmer betritt.
Mit meinen Fingern fahre ich über die blaue Decke, als mir einfällt, dass heute die Beerdigung meiner Mutter ist.
Nicht mal dabei werde ich sein können, ganz im Gegenteil, ich werde sie bald wieder sehen, wenn ich nicht abhauen werde.
Mein Blick fällt auf die Uhr, die zwei Uhr anzeigt. Ganz offensichtlich sind das hier nachtaktive Leute, sonst würden die nicht um zwei Uhr andere Leute verprügeln.
Ich lehne meinen Kopf an die Wand, während ich versuche eine gute Sitzposition zu finden, die auch angenehm für meinen Bauch ist.
Liam fängt an in einer Schublade des Schreibtisches zu krusteln und zieht einen kleinen Verbandskasten heraus.
Dann setzt er sich neben mich und schaut mich an."Du wirst mich nicht verarzten", sage ich bissig und Liam schüttelt den Kopf.
"Grace, sei nicht so stur. Es tut mir ja leid, was ich gemacht habe, aber du kannst mir nicht ewig böse sein."
"Doch kann ich."
Liam grinst, bevor er meine Beine packt und mich von der Wand zieht.
Dann drückt er mich auf das Bett und schiebt mein T-Shirt hoch.
"Liam-"
"Ich verarzte dich nur.", sagt er und schaut sich den Verbandskasten an.
Ich verdrehe die Augen, sehe aber ein, dass es besser für mich wäre, wenn man etwas bei meiner Wunde macht.
"Hm.", kommt aus Liams Mund und ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen. "Na gut, da ich kein Arzt bin, weiß ich nicht, was ich jetzt am Besten machen könnte. Ich hole Maya."
Nachdem er das gesagt hat, verlässt er den Raum, steht aber keine Minute später schon wieder vor mir.Ein Mädchen, vermutlich Maya, betritt den Raum und ich erkenne sie sofort wieder. Sie war das Mädchen, das mich geheilt hat, als ich noch die Wunde von Liam hatte.
Sie lächelt mich kurz an, bevor sie meine Hand packt und die Augen schließt.
An ihrer Hand entsteht ein gelbes Licht und sofort spüre ich ein Kribbeln in meiner Bauchgegend.
Das Kribbeln geht in Wärme über und ich merke, wie ich mich entspanne und die Schmerzen nachlassen.Mit einem zufriedenen Lächeln lässt Maya meine Hand wieder los und das Licht verschwindet, als sie die Augen wieder öffnet.
"Gut", sagt Liam und hängt noch ein "Danke." daran.
Maya verlässt das Zimmer und schließt die Tür leise hinter sich.
"Besser als von mir verarztet zu werden. Ist es schon besser?", fragt er und zeigt auf mein Wunde.
Ich nicke und stehe auf, weil ich mich auf dem Bett unwohl fühle.
Ich laufe an das Fenster und werfe einen Blick nach draußen, auch wenn man nicht viel sehen kann, weil es Nacht ist.
Nur der Mond scheint über dem Meer und erhellt das Wasser unter ihm."Grace?"
Liam steht direkt hinter mir und ich drehe mich zu ihm um.
"Was?", frage ich nicht gerade sehr freundlich.
"Du wolltest doch mal meine Gabe wissen."
"Betonung auf 'wollte'!", sage ich und will etwas mehr Abstand zwischen ihm und mir schaffen, weshalb ich meine Arme hebe und ihn ein kleines Stück von mir wegdrücken will.
Liam jedoch schnappt meine Handgelenke und drückt meine Arme sanft links und rechts von mir an die kalte Wand.
Dann beugt er sich ein wenig vor und ich drehe mein Gesicht auf die Seite.
"Ich bin Lügenerkenner", flüstert er direkt an meinem Ohr und ich spüre seinen Atem auf meiner Haut.Das nenne ich mal eine gute Gabe. Wer will das nicht können? Lügen erkennen? Aber dann musste er ja theoretisch gewusst haben, dass ich in ihn verknallt bin, weil ich es immer wieder verleugnet habe. Und ich war bloß irgendein Mädchen mit einer besonderen Gabe für ihn. Ihn hat nie interessiert, was ich für ihn empfinde, nein, er hat sich nur für meine Gabe interessiert, obwohl er wusste, dass ich ihn liebe.
"Du Arschloch!", zische ich und trete um mich, aber sein Griff um meine Handgelenke wird nicht lockerer.
"Haben sich deine Gefühle für mich etwa so schnell wieder verändert?", fragt Liam und legt interessiert den Kopf ein wenig schief."Das geht dich nichts an", fauche ich und Liam grinst belustigt.
"Du bist richtig süß, wenn du so wütend bist, weißt du das?", fragt er und allein schon dafür würde ich ihm gerne eine knallen.
Verzweifelt versuche ich jedoch meine Arme zu befreien, was Liam dazu veranlasst, meine Handgelenke stärker festzuhalten.
Ich setze gerade zu einer Antwort an, als etwas gegen das Fenster klatscht und ich überrascht nach vorne schrecke und mit Liams Stirn zusammenstoße.Dieser lässt meine Arme los und hebt mich hinten am Hals fest, während seine andere Hand an meinem Rücken liegt.
"Das war doch bloß ein Ast.", murmelt er und schaut auf meine Lippen, als wären sie aufeinmal hochinteressant.
Dann schaut er mir noch eine Sekunde in die Augen, bevor er den Abstand, von vielleicht mal drei Zentimeter, zwischen ihm und mir schließt und seine Lippen meine berühren.
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Die zehnte Gabe
FantasyGrace lebt mit ihren reichen Eltern auf Onaria, einem Planeten, der unbekannt für uns Menschen ist. Jeder dort verfügt über eine Gabe, welche Grace jedoch noch nicht entdeckt hat. Mit gerade einmal 17 Jahren weiß sie schon, wen sie in naher Zukunft...