Kapitel 35

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Ich stoße die Tür auf und achte nicht auf die Schritte, die immer schneller näher kommen.
Sofort schlägt mir angenehme kühle Luft entgegen und ich bereue es echt, dass ich meine Jacke nicht mitgenommen habe, weil sich eine Gänsehaut auf meinen Armen ausbreitet.
Vorsichtig setze ich mich auf die Treppe und starre auf den leeren Parkplatz vor mir.
Dann trinke ich einen kleinen Schluck und bin gerade dabei, die Flasche wieder zuzumachen, als die Glastür hinter mir mit einem Quietschen aufgemacht wird und ich kurz zusammenzucke.
Mein Blick ist stur auf den Parkplatz gerichtet, da ich schon eine Vermutung habe, wer mir aus dem Erdkundekurs gefolgt ist.
Schon allein Lukas Geruch bestätigt, dass meine Vermutung richtig war.
Als er dann meine Jacke um mich legt, könnte ich meinen, dass er wieder ganz der alte ist. So hätte er es früher auch gemacht und nach diesen paar Stunden heute, war ich mir sicher, dass er das nicht machen würde.
Schweigend ziehe ich mir meine dunkelblaue Jacke an, während Lukas sich neben mich auf die Treppe setzt.
Lange schweigen wir nur, da kein Wort unser Verhalten heute erklären kann. Naja, eigentlich seins. Wahrscheinlich weiß er auch, wie ich mich gerade fühle, nämlich so, wie er sich gestern Abend gefühlt haben muss.

Nervös knackse ich mit meinen Fingern, auch wenn Lukas das über alles hasst.
Keine Ahnung wieso, aber gerade bin ich echt nervös. Vielleicht weil ich Angst davor habe, was Lukas sagen wird.
Doch anstatt etwas zu sagen, legt Lukas seine Hand auf meine und drückt sie.
Für mich ein eindeutiges Zeichen, dass ich aufhören soll, mit den Fingern zu knacksen.
Ich versuche es, kann meine Finger dann aber nicht mehr stillhalten.
Langsam verschränkt Lukas seine Finger mit meinen, schaut aber genauso wie ich auf den Parkplatz.
Schnell ziehe ich meine Hand weg von seiner, weil ich das gerade echt nicht will.
Vielleicht, weil mich das an Namenlos erinnert, mit der er genau das Gleiche gemacht hat. Wenn er nur das will kann er auch gleich wieder reingehen.
Und komischer Weise bekomme ich das Gefühl, dass Namenlos ihm mehr bedeutet als ich, weil er bei ihr bestimmt auch noch mehr, als das gerade im Unterricht zugelassen hätte. Aber andererseits weiß er, dass ich das nicht will und es deshalb bei mir nicht versuchen muss.
Ich hätte Lukas nie für so einen Jungen gehalten. Und das mir das noch nicht aufgefallen ist, erschreckt mich schon, da er ja mein bester Freund ist, seit ich denken kann. Habe ich ihn immer mit falschen Augen gesehen?

Fassungslos schüttele ich den Kopf. Dieser Gedanke ist gar nicht so abstoßend. Leider.
"Geh wieder rein", sage ich und hoffe, dass er nicht die Enttäuschung in meiner Stimme hört. Enttäuschung, die durch ihn entstanden ist.
Lukas schüttelt den Kopf.
"Wir beide müssen reden", sagt er leise.
"Ich weiß. Aber ich bin nicht rausgegangen, damit ich mit dir rede, sondern weil mir schlecht war."
"Na gut. Dann kann ich wieder reingehen."
Ohne auf meine Reaktion zu warten, steht er auf und verschwindet ziemlich schnell im Gebäude.
Fluchend stehe ich auf und folge ihm.
Er ist schon fast an der Tür angekommen, also bringt rennen zum Einholen nichts.
"Lukas!", rufe ich, aber nicht zu laut.
Sofort dreht er sich um und schaut mich erwartungsvoll an.
Ganz langsam laufe ich auf ihn zu, während ich die Hände in die Jackentasche schiebe.
Lukas versteht mich und kommt auf mich zugelaufen.
"Wir gehen besser raus. Da kann uns keiner hören oder sehen und wenn sind wir draußen, weil dir schlecht ist."

Ich tue mal so, als hätte ich den einen Teil des Satzes nicht gehört.
Da kann uns keiner sehen.
Als wäre es ihm peinlich, wenn er mit mir gesehen wird. Ich weiß nicht, was zwischen uns passiert ist, aber es gefällt mir ganz und gar nicht.
Während er sich auf die Treppe setzt, lehne ich mich gegen das Geländer und schaue auf meine Schuhe.
"Du darfst ruhig anfangen.", sagt Lukas bitter und ich weiß nicht, wo ich am Besten beginne.
Okay, dann fang ich halt mit der ersten Begegnung mit Liam in der Schule, wo er mich vor der großen Gabel, achso, das heißt ja Rechen, gerettet hat.
Und so erzähle ich eigentlich von jeder meiner Begegnungen mit ihm, lasse aber das aus, als ich bei ihm war und mit ihm über meine Probleme geredet habe.
"Ihr scheint euch echt gut zu verstehen", sagt Lukas, nachdem ich fertig bin.
"Eben nicht. Am Anfang habe ich ihn gehasst, weil er mich gehasst hat und sich manchmal über mich lustig gemacht hat, aber jetzt ist er ganz okay."

"Es hat sich also zwischen euch verbessert."
Obwohl es keine Frage ist, nicke ich mit dem Kopf.
"Ein bisschen."
"Und das will ich nicht", sagt Lukas und stützt seinen Kopf in die Hände.
"Sagst gerade du. Ich habe nicht mit ihm rumgeknutscht und wenn dann würde ich es nicht vor deinen Augen machen. Da bist du aber ganz anderer Meinung!"
"Soll das etwa heißen, dass du vorhast, mit ihm rumzumachen?"
Fassungslos verschränke ich die Arme vor der Brust.
"Wie kommst du auf die Idee?", frage ich und werde leicht wütend.
"Du hast es in Betrachtung gezogen, durch dein 'und wenn dann'."
Wütend stoße ich mich von dem Geländer ab.
Okay, tut er jetzt so, oder kennt er mich wirklich so schlecht?
"Ganz ehrlich, ich sehe keinen Grund mich für das gestern Abend zu entschuldigen, weil da nichts war! Du solltest es aber dringend tun. Ich war immerhin nicht die jenige, die keine zehn Stunden später mit einem anderen rumgeknutscht hat. Ganz zu schweigen von dem gerade im Unterricht!"
Ohne ihm noch einen weitern Blick zu schenken, drehe ich mich um, reiße die Tür auf und laufe so schnell ich kann zum Erdkunderaum.

Lukas folgt mir zwar, hält mich aber nicht auf, als ich in dem Raum verschwinde und mich auf meinen Platz setze, wo ich die restlichen Minuten auf meinen zerbrochenen Stift schaue. Irgendwann habe ich ihn dann auch mit meinem Kleber wieder zusammengeklebt und war so in meine Arbeit vertieft, dass ich gar nicht bemerkt habe, wie Lukas sich wieder neben mich gesetzt hat. Aber als ich meine Sachen in meine Tasche packe, fällt mein Blick auf Namenloses Hand auf Lukas Oberschenkel.
Ich verdrehe die Augen und verlasse direkt beim Klingeln den Raum.

"Ruf mich heute Abend an. Ich muss noch Geburtstagskarten schreiben und das Haus putzen. Ich glaub nicht, dass du mir beim Putzen helfen willst."
Ich schüttele den Kopf und Renée lacht und umarmt mich extrem kräftig.
"Gut. Dann bis heute Abend."
"Okay."
Renée hüpft fast zu ihrem Auto und ich schaue ihr noch zu, wie sie elegant den Parkplatz verlässt und nach Hause fährt.
Dann mache ich meine Musik an und laufe nach Hause.

Die zehnte GabeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt