Ich erschaudere bei dem Echo, welches noch zwei Sekunden den Gang mit einer enormen Lautstärke erfüllt. Eine Gänsehaut breitet sich aus und ich fange ein wenig an zu zittern. Das gehört nicht zum Plan. Ich eile ohne zu überlegen zu der mächtigen Holztür und lege meine Hand zögernd auf den eiskalten Griff.
Irgendetwas stimmt ganz und gar nicht. Ariane schreit nicht grundlos, das ist klar. Und es war unverwechselbar Ariane, da ich sie schon einmal schreien gehört habe. Das weiß ich noch ganz genau, weil ich Liam damals eine geknallt habe. Ich will gerade den Griff runterdrücken, als ein Knacken ertönt und dann eine Stimme. Arianes Stimme.
"Abbruch!", schreit sie regelrecht in das Gerät und ich höre im Hintergrund den Wind und das Meer. Warum ist sie draußen? "Grace, Lukas! Sofort aus dem Gebäude! Renée ist bei mir, aber kommt da raus!"
In Panik drehe ich mich schon um und will zu dem Seiteneingang stürzen, als mir Liam in den Sinn kommt. Er muss doch noch irgendwo hier sein. Ich erstarre, unsicher, was ich jetzt machen soll. Ich kann ihn doch nicht einfach zurücklassen. Wenn der 'Böse' noch lebt und davon gehe ich aus, dann wird das sein Tod sein. Der 'Böse' wird Liam nicht mit Kuchen und Kaffee begrüßen, sondern eher mit der Folterkammer, immerhin hat er mir bei der Flucht geholfen und hat sich, wie er mehrmals behauptet hat, auf unsere Seite gestellt.
"Grace!", schreit Ariane wütend. "Komm da sofort raus!" Ich schalte das Gerät aus, damit es mich nicht noch verrät, da ich mir nicht sicher bin, ob die Stimmen aus dem Gerät durch die schwere Holztür zu hören sind. Ich werde Liam nicht einfach im Stich lassen, das ist mir klar, aber ich habe nichts, mit dem ich mich mit dem 'Bösen' messen könnte, außer meine Gabe. Und vielleicht ist seine Gabe stärker als meine. Dann sind wir beide tot. Liam kann mit seinem Lügenerkennen hier nämlich nicht sehr viel anfangen.
Wie in Zeitlupe drücke ich den Griff Zentimeter für Zentimeter runter und atme einmal tief ein, bevor ich die Tür, die über den Boden streift und ein Kratzen von sich gibt, mit Schwung öffne. Meine dunklen Haare werden mir über die Schulter geweht und ich bewege mich überhaupt nicht. Nicht mal, als die Tür so weit aufgeht, dass sie die Wand dahinter mit einem Knall berührt und dabei ein Bild von der ihr stößt, das mit einer Kante des Holzrahmens auf den Boden trifft und die Glasscheibe in tausende Splitter zerbricht. Schnell wende ich meinen Blick von den auf dem Boden zerstreuten Glasscherben und lasse ihn nach links wandern. Kein Wache hat sich dort wie normal positioniert, was mir verrät, dass Lukas und Ariane diesen Teil erfolgreich erfüllt haben. Mein Blick schweift über den Holzboden zu den edlen verzierten Stufen und weiter zu dem Thron. Meine Augen verengen sich, als ich dem 'Bösen' in die dunklen, fast schwarzen Augen schaue, während sich um seinen Mund ein Lächeln bildet.
Am liebsten hätte ich ihm mit Gewalt dieses Grinsen aus dem Gesicht gewischt, aber so schweift mein Blick ruhig weiter. Jedoch kann ich nicht verhindern, dass sich meine Hände zu Fäusten ballen und meine Fingernägel sich in die Handfläche bohren. In seiner Hand hält der 'Böse' eine schwarze Pistole, die er fest und sicher umklammert an den Kopf eines Mädchens drückt, welche ich erst bei genauem Hinschauen erkenne. Sie ist das Mädchen, das mich immer geheilt hat und von Liam Maya genannt wurde. Ihr vor Angst zitternder Körper dreht sich zu mir und sie schaut mich hilfesuchend an.
Eilig blicke ich mich weiter um und treffe gegenüber des 'Bösen' auf leuchtend grüne Augen. Liam ist ganz angespannt, aber in seinen Augen schimmert Sicherheit, die mich zur Ruhe bringt.
'Was ist los?', frage ich ihn in Gedanken und es dauert nicht lange, bis mich eine Antwort erreicht.
'Ariane hat sich nicht getraut ihn zu vergiften.'
Ich zucke zusammen, Liam jedoch bleibt ganz ruhig und man könnte meinen, dass wir nicht gerade miteinander geredet haben. Aber das ist mir so ziemlich egal. Ich kann nicht glauben, dass ausgerechnet Ariane unseren Plan zerstört hat. Es will einfach nicht in meinen Kopf.
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Die zehnte Gabe
FantasyGrace lebt mit ihren reichen Eltern auf Onaria, einem Planeten, der unbekannt für uns Menschen ist. Jeder dort verfügt über eine Gabe, welche Grace jedoch noch nicht entdeckt hat. Mit gerade einmal 17 Jahren weiß sie schon, wen sie in naher Zukunft...