Kapitel 17

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"Wie wars?"
Erschrocken halte ich die Luft an und greife nach dem Lichtschalter.
Mein Blick gleitet zu meinem Vater, der aussieht, als hätte ich ihn gerade aus dem Bett gerissen.
Schnell atme ich normal weiter.
"Erschreck mich nicht so."
"Wollte ich doch gar nicht. Also, wie war es?", fragt mein Vater neugierig.
Ich schaue auf die Seite und direkt auf das Bild an der Wand, auf dem das Hochzeitsbild meiner Eltern dargestellt ist.

"Toll", sage ich und schaue auf meine Mutter, die auf dem Bild überglücklich aussieht.
"Dann ist ja gut."
Mein Vater dreht sich um und verschwindet im Wohnzimmer, wo er gerade einen Film anschaut.

Ich laufe erschöpft die Treppe hoch und lege mich geschminkt und immer noch in dem Kleid ins Bett.
Ich will eigentlich schlafen, aber ein Klingeln lässt mich nicht dazu kommen.
Langsam strecke ich meine Hand zu dem Handy und schaue auf den Anrufer. Renée steht dort ganz groß und darüber ist ein Bild von ihr angezeigt.
Kaum gehe ich auf 'annehmen' ertönt ihr Stimme.
"Kuss oder nicht?", fragt sie, bevor ich ein Wort über die Lippen bekomme.
Eigentlich hätte sie auch 'Gespräch oder nicht' fragen können.
"Nicht.", sage ich und kann ein Gähnen nicht unterdrücken.
Ich höre Renée laut atmen, als müsste sie gerade das einfache Wort in sich aufnehmen.
"Wie bitte?", fragt sie nach und wird lauter.
"Du, ich bin müde. Komm morgen einfach eine halbe Stunde früher, dann können wir drüber reden, okay?"
Lange kommt keine Antwort und ich bin mir schon fast sicher, dass sie aufgelegt hat.
"Okay. Gute Nacht."
Dann legt sie auf, ohne dass ich noch ein Wort sagen kann.
Ich drehe mich einfach um und schlafe müde ein.

"Morgen, Schatz. Und wie wars gestern?"
Langsam öffne ich die Augen und sehe meine Mutter an meinem Bett sitzen.
Wann hat sie das das letzte Mal gemacht?
Ich suche fieberhaft nach einer Antwort, aber ich finde keine Erinnerung mehr daran.
"Ähm, schön.", sage ich und suche zuerst mal nach Worten.
Meine Mutter nickt.
"Schön.", sagt sie.
Jetzt nicke ich.
Sie steht auf und verlässt das Zimmer.
Fassungslos und verwirrt starre ich ihr hinterher und stehe ganz langsam auf.

In der Küche angekommen, sitzen meine Eltern schon am Tisch.
Ich setze mich ihnen gegenüber und starre auf meinen leeren Teller.
Irgendwie fühle ich mich unwohl und fange an mein Brötchen zu bestreichen.
Immer wieder huscht mein Blick zu meinen Eltern, diese essen aber ganz gemütlich, als würden sie das jeden Tag so machen.
Nur, dass wir schon seit über drei Monaten schon nicht mehr zusammen gegessen haben.
Die Stille drückt mich zusammen und ich halte es echt nicht mehr aus.
"Was ist mit euch los?", frage ich und durchschneide die Ruhe.
Gleichzeitig lassen meine Eltern ihr Brötchen sinken und schauen mich mit dem gleichen Gesichtsausdruck an.
Habe ich etwas falsch gemacht?

"Wir wollten nur mal wieder zusammen essen", sagt mein Vater leise und beißt in sein Brötchen.
Ich nicke und esse weiter.
Damit ist unser Gespräch dann auch schon beendet.
Zusammen räumen wir den Tisch ab und meine Mutter fragt, ob ich mit ihr einkaufen gehen möchte.
Total verwirrt stimme ich zu und dann fahren wir auch schon mit dem Auto zum nächsten Supermarkt.
Ich will gerade das Radio anmachen, als meine Mutter anfängt zu sprechen.
"Lukas Eltern und wir haben gestern geredet."
Aha, deshalb so freundlich heute?
Wahrscheinlich kommt jetzt eine tolle Nachricht.
Ich schließe die Augen und stelle mich schon auf das Schlimmste ein, während ich ihr zu verstehen gebe, dass sie weiterreden soll.
"Wir... wir haben beschlossen, dass ihr euch öfters treffen solltet, damit ihr so schnell wie möglich heiraten könnt."
Ich atme zwischen zusammengepressten Zähnen aus.
Am liebsten hätte ich auf irgendetwas eingeschlagen, aber so balle ich bloß meine Hände zu Fäusten und versuche ganz normal zu wirken.
"I..ich weiß nicht", flüstere ich schon fast.
Meine Mutter schaut kurz von der Straße zu mir, dann aber gleich wieder zurück.
"Wie, du weißt nicht?", fragt sie und ich höre Enttäuschung in ihrer Stimme.
Ich atme einmal kräftig aus, bevor ich anfange zu reden.
"Ich will ihn eigentlich nicht heiraten", gebe ich zu und schaue aus dem Fenster, weil ich die Reaktion meiner Mutter nicht sehen will.
Meine Mutter schnappt hörbar nach Luft.
"Ich weiß."
Langsam drehe ich meinen Kopf zu ihr.
"Woher?", frage ich verwirrt.
Sie schaut stur auf die Straße und umklammert fest das Lenkrad.
"Ich weiß, wie es sich anfühlt."
Ich schaue meine Mutter von der Seite an und sehe sie auf einmal mit anderen Augen.
Sie war wie ich. Wurde auch verheiratet.
Mein Blick fällt auf die noch immer zu Fäusten geballten Hände, die sich allmählich lockern.
"Ich..."
Ich suche nach Worten, aber es lassen sich keine finden. Mein ganzer Kopf ist leer, als wäre alles weggefegt.
Meine Mutter schaut liebevoll zu mir.
So einen Blick habe ich schon lange nicht mehr von ihr gesehen.
Und in dem Moment, in dem wir beide wieder auf die Straße schauen, ertönt ein lauter Knall und das Auto wird abgebremst.
Ich merke, wie ich schreie aber der Knall ist viel lauter.
Ich halte mir schützend eine Hand vor das Gesicht, aber ich kann nichts mehr sehen.
Das Auto steht jetzt komplett still und ich taste mich im Auto um und merke, wie ich überall eingequetscht bin.
Ich will nach der Hand meiner Mutter greifen, doch stattdessen lange ich in eine Flüssigkeit. Erschrockene ziehe ich die Hand zurück.
Von weit weg höre ich panisches Geschrei und Rufe und dann wird meine Tür aufgerissen.
Arme greifen nach mir und zerren mich aus dem Auto.
Kurz kann ich wieder sehen und meine Schreie bleiben mir im Hals stecken.
Denn die Frontscheibe unseres Autos hat einen riesigen Sprung und ist rot überzogen. Alles Blut. Zu viel Blut.
Und dann kippe ich einfach um.

"Sie wird bald zu sich kommen."
Ich schlafe wieder ein.
"Machen Sie sich keine Sorgen, ihr geht es gut."
Und ich bin schon wieder weg.

"Ja, ihr geht es gut."
"Aber warum ist sie dann noch nicht wach?"
"Sie braucht nur Zeit."
Schritte entfernen sich und eine Tür wird zugemacht.
Ich will meine Augen öffnen, aber es geht nicht.
Ich versuche es mit aller Kraft die ich habe, aber ich schaffe es nicht.
Ich höre jemanden weinen und will den Mund aufmachen, damit ich der Person sagen kann, dass sie nicht weinen soll, aber selbst den bekomme ich nicht auf.
Eine Hand greift nach meiner und drückt sie leicht.
Ich will etwas sagen, auch die Hand drücken, aber ich bekomme es nicht hin.
Erschöpft schlafe ich wieder ein.

Ohne Stimmen zu hören wache ich auf und öffne die Augen, dieses Mal sogar ohne Probleme.
Ich sehe einen hellen, weißen Raum.
Aha, also bin ich in einem Krankenhaus.
Und es riecht auch so. Ich schaue an mir runter und sehe einen Verband an meinem Handgelenk, sonst nichts.
Dann bewegt sich etwas neben mir. Erschrocken stoße ich meine angehaltene Luft aus, als ich sehe, dass ich nicht alleine bin.
In einem anderen Bett liegt ein Junge und schaut mich mit seinen braunen Augen an.
Schnell schaue ich auf die Seite.
Doch er scheint schon bemerkt zu haben, dass ich wach bin, da das Bett anfängt zu quietschen, als er aufsteht und zu mir humpelt.
Humpelt? Ich starre auf den riesigen Verband an seinem rechten Fuß.
"Scheiße nicht?"
Seine tiefe Stimme holt mich von seinem Bein wieder und ich schaue ihm in die Augen und merke, wie ich leicht rot werde. Wer weiß, was mit seinem Bein passiert ist?
"W..." Meine Stimme versagt und ich räuspere mich, bevor ich noch einen Versuch starte.
"Was ist scheiße?", frage ich verwirrt.
Der Junge setzt sich auf den Stuhl neben meinem Bett und lächelt.
"Na alles. Wer ist denn nicht gerne im Krankenhaus? Wer hat nicht gerne einen Unfall?"
Ich kann mir bei der ganzen Ironie kein Lächeln verkneifen.
"Steven", stellt er sich vor und hebt mir eine Hand hin.
"Grace", sage ich leise und reiche ihm meine Hand.

Die zehnte GabeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt