"Erzähl mir von dir", fordert Steven mich auf, nachdem er es sich ein bisschen bequemer gemacht hat, als würde er sich auf eine längere Unterhaltung gefasst machen.
"Mhm, was soll ich denn sagen?", sage ich und drehe meinen Kopf zu ihm, sodass ich ihm in die Augen schauen kann, ohne dass ich danach einen verspannten Hals habe.
"Einfach irgendwas. Über dich, deine Freunde,... wenn dir nichts besseres einfällt, dann auch über die Schule."
Er lächelt und senkt für eine Sekunde den Blick.
"Na gut." Ich runzele die Stirn, als ich nachdenke. "Ich habe seit gestern meine Gabe entdeckt."
Steven lächelt.
"Ein bisschen spät, nicht?"
Ich nicke.
"Und was ist es?", hakt Steven neugierig nach.
"Wasser.", sage ich mit enttäuschter Stimme.
"Krass."
Ich schüttele den Kopf.
"Was soll das denn heißen?"
"Na, Wasser ist doch voll blöd. Wieso kann ich nicht einfach in die Zukunft schauen?"
Stevens Lächeln wird größer und er lehnt sich entspannt auf dem Stuhl zurück.
"Weißt du, was manche für deine Gabe geben würden? Millionen würden nicht reichen. Und fürs in die Zukunft schauen? Fünftausend."
Ich schaue auf die weiße Decke.
"Jetzt musst du mir von dir erzählen."
Steven seufzt.
"Okay. Aber da gibt es nicht viel zu sagen."
"Also bitte. Jeder kann Stunden über sich erzählen. Und wenn man dabei von seinem Lieblingspullover redet", unterbreche ich ihn.
Steven lacht.
"Wenn du meinst. Also mein Lieblingspullover ist blau. Dunkelblau."
Ich schaue ihn mit einem Ist-das-dein-Ernst-Blick an.
Er lacht.
"Na gut. Ich kann Licht erzeugen."
"Krass", wiederhole ich seine Worte. Von der Gabe habe ich noch nie etwas gehört.
Steven zuckt mit den Schultern.
"So toll ist das auch nicht."
Ich verdrehe die Augen.
"Meinst du. Darf ich dich was fragen?"
Ich drehe mich auf die Seite.
"Klar, was denn?"
Ich hole Luft.
"Was ist mit deinem Bein?", frage ich neugierig.
Steven lächelt.
"Das hat mich noch nie jemand gefragt. Warum auch immer. Naja, war ein blöder Unfall. Ich bin Fahrrad gefahren und da war dann plötzlich ein Auto. Keine Ahnung, wo das her kam, aber es war einfach vor mir. Ich habe das Fahrrad natürlich auf die Seite gerissen, und bin voll mit dem Bein dagegen gefahren."
"Aber ist es nur..."
"Ja, nur gebrochen.", unterbricht er mich und beantwortet meine Frage.
Er lächelt gequält.
"Ich hatte echt noch Glück."
Ich nicke.
Auf einmal wird die Tür aufgemacht und Lukas erscheint im Türrahmen.
Er sieht müde aus. Dicke Augenringe belagern seine Augen. Aber er lächelt.
Und ich muss auch lächeln.
"Du siehst scheiße aus.", gebe ich zu.
Lukas läuft zu mir, während er lacht und immer wieder einen Blick von mir zu Steven wirft, der auch sich gerade wieder in sein Bett aufmacht.
"Dir scheint es besser zu gehen."
Er setzt sich neben mich und greift nach meiner Hand.
"Ich hatte so unglaublich Angst um dich", gesteht er.
"Was ist mit Mum?", platzt es aus mir raus.
Vor meinen Augen sehe ich die mit Blut verschmierte Frontscheibe des Autos und ich fange an zu würgen.
Lukas ist schon aufgesprungen, um mir einen Eimer zu holen, aber ich halte ihn zurück.
"Geht schon. Also?", frage ich neugierig und will jetzt unbedingt eine Antwort auf meine Frage.
Lukas setzt sich quälend langsam auf den Stuhl zurück und greift erneut nach meiner Hand.
"Grace, deine Mutter, sie..."
Lukas bricht im Satz ab. Ich habe ihn noch nie stottern gehört und bin jetzt ganz Ohr.
"Jetzt sag!", sage ich etwas lauter.
Lukas holt hörbar Luft.
"Sie ist tot."Drei Wörter. Drei Wörter und ich bin sprachlos. Wie geschockt starre ich ihn an und zwinge mich zu einem Lächeln, während eine Träne ganz langsam mein Auge verlässt.
"Das ist ein Scherz. Sag mir, dass das ein Scherz ist", bringe ich unter Tränen hervor. "Sag es mir."
Lukas schüttelt den Kopf.
"Es tut mir leid."
Ich fange an zu weinen. Nie wieder werde ich sie sehen.
Dabei habe ich sie doch jetzt erst richtig kennengelernt.
Lukas drückt meine Hand und versucht mich zu beruhigen, da ich wie verrückt schreie.
"Nein!"
Immer wieder verlässt dieses Wort meinen Mund.
Irgendwann versagt meine Stimme, genau da, als eine Krankenschwester in das Zimmer stürzt und nach der Ursache des Geschreis sucht.
"Beruhigen Sie sich."
Ich brülle sie an und sie steckt mir einfach eine Tablette in den Mund, die ich vor Schreck und Überraschung auch noch schlucke.
Ich will sie für diese Frechheit schlagen, aber Lukas hält meine Hände ganz fest.
Ganz ungewollt werde ich müde und lege mich zurück, wo mir dann auch gleich die Augen zufallen.
"Geht doch."
Mehr bekomme ich nicht mehr mit."Und nun die Wettervorhersage für Montag..."
Blitzschnell bin ich wach und schlage die Augen auf.
Ich schaue mich in dem Raum rum und sehe, dass Steven auf seinem Bett liegt und sich gerade durch die Kanäle zapft.
Ich drehe mich um und er schaut mich mit einem Lächeln an.
"Nächstes Mal warne mich bitte vor, bevor du so schreist. Ich dachte schon, dass wir alle taub werden", sagt er und legt die Fernbedienung auf die Seite.
"Tut mir leid", sage ich und senke den Blick.
Doch eine Träne schafft es meine Augen zu verlassen.
Steven steht auf, ist schnell um mein Bett gelaufen und nimmt mich in den Arm.
Normalerweise versucht man ja dann immer jemanden zu beruhigen, aber Steven scheint da andere Meinungen zu haben.
"Du kannst nichts mehr tun. Ist eh schon alles zu spät."
Ein Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht, aber nicht wegen meiner Mum. Es ist wegen Stevens direkter Art.
"Ich kenne das Gefühl", gibt Steven zu und setzt sich auf den Stuhl neben meinem Bett.
"Meine kleine Schwester ist mit drei Jahren überfahren worden", erzählt er mir.
"Erzählst du so was eigentlich jedem, der hier zu dir ins Zimmer kommt?", frage ich.
Steven schüttelt den Kopf.
"Du bist die Erste, der ich es sage."
Steven sieht auf einmal todtraurig aus, aber bevor ich ihm etwas sagen kann, steht er auf und läuft wieder zu seinem Bett.Schweigend schauen wir auf den Fernseher, während wir unser Abendessen verspeisen.
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Die zehnte Gabe
FantasyGrace lebt mit ihren reichen Eltern auf Onaria, einem Planeten, der unbekannt für uns Menschen ist. Jeder dort verfügt über eine Gabe, welche Grace jedoch noch nicht entdeckt hat. Mit gerade einmal 17 Jahren weiß sie schon, wen sie in naher Zukunft...