Kapitel 67

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Liams Sicht

"Wir sind heute hier versammelt...", fängt der Pfarrer mit der üblichen Rede an, doch ich starre nur auf den Sarg, der in der Mitte steht und in dem sie liegt. Ich spüre, wie sich Tränen in meinen Augen bilden, blinzele sie aber schnell weg. Renée kann sich aber nicht zurückhalten, weshalb ein Wasserfall ihre Augen verlässt.

Erst als sich alle erheben, werde ich aus meiner Starre gerissen und folge den Leuten nach draußen. Ich bin die ganze Zeit richtig benommen und versuche nicht einfach so zusammenzubrechen wie Renée, die sich stützend an Lukas festhält.
Der Pfarrer leiert irgendeinen Text runter, während es anfängt zu tröpfeln. Ich richte meinen Blick von dem Loch im Boden auf den Himmel und betrachte die zahlreichen Tropfen, die leise auf den Boden treffen und in der Erde verschwinden.

Graue, dichte Wolken haben sich über uns zusammen gebraut und verdunkeln alles. Der Pfarrer redet schneller und ich beobachte, wie der Sarg vorsichtig in das Loch gelassen wird.
Die monotone Stimme des Pfarrers geht mir so langsam echt auf die Nerven und ich bin schon fast froh, als er sich umdreht und den Friedhof verlässt.
Immer mehr Leute folgen ihm schweigend.
Nach ein paar Minuten stehen nur noch Renée, Lukas, Graces Vater und ich um das Grab.
"Komm.", flüstert Lukas und will Renée wegziehen, welche auch langsam mitgeht.
Als Lukas an mir schon fast vorbeigelaufen ist, packt er doch noch meinen Arm.
Renée läuft unbeirrt weiter und man hört nur das Knirschen ihrer Schuhe auf dem Weg.

Ich habe meinen Blick immer noch auf den Boden gerichtet, als Lukas aber den Griff an meinem Arm verstärkt, blicke ich ihn an.
Seine eiskalten Augen scheinen mich verschlingen zu wollen, dann öffnet er den Mund.
"Daran bist du Schuld!", zischt er und zeigt auf das Grab. "Nur du!"
Ich zucke zusammen, versuche aber mir nichts anmerken zu lassen. Lukas lässt mich los und sein Blick schweift verachtend über mich, dann schüttelt er den Kopf, murmelt etwas wie "Und sie soll so einen geliebt haben?" und verlässt anschließend den Friedhof.

Wie in Zeitlupe drehe ich mich um und richte den Blick erneut auf das Grab.
Hat er Recht? Bin ich daran Schuld?
Ich versuche mir einzureden, dass es nicht so ist, aber ich kann nicht mal mich selbst überzeugen.

"Du bist gar nicht ihr Nachhilfelehrer und bist es auch nie gewesen", durchbricht eine mir bekannte Stimme die Stille und reißt mich aus den Gedanken.
Ich hebe den Kopf und schaue Graces Vater, der auf der anderen Seite des Grabes steht, in die Augen, welche die gleiche Farbe wie Graces Augen haben.
Ich schüttele den Kopf, wobei mir eine vom Regen nasse Haarsträhne ins Gesicht rutscht.
"Nein", bringe ich leise über die Lippen.
Der Mann nickt und schaut geknickt auf das Grab.

"Sie hat dich gemocht", murmelt er und ich glaube mich verhört zu haben."Manchmal hatte sie so ein Glitzern in den Augen. Das hat mir immer verraten, dass sie dir an dem Tag begegnet ist. Und als ich dich dann bei uns gesehen habe, war ich mir sicher, dass du ihr gut tust. Sie war immer so glücklich, wenn du bei ihr warst. Sie hat dann immer so...gestrahlt. Ich habe es ihr einfach angemerkt."

Ich nehme schweigend die Worte in mich auf und spüre, wie sie mir gut tun. Wie sie mich an einem silbernen Faden wieder aufrichten, wie sie mich stützen.

"Wie?", fragt Graces Vater plötzlich und nickt in Richtung Grab. "Wie ist sie gestorben?"

Ich schlucke und spüre Tränen in meinen Augen brennen. Sie hat mich gerettet, sonst würde ich hier liegen. Sie hat sich für mich geopfert. "Sie wurde von einer Kugel getroffen und hat zu viel Blut verloren." Der Mann gibt ein Schluchzen von sich und dreht sich mit einem "Ich habe dich lieb, Grace. Ich habe es dir vielleicht nicht immer gezeigt, aber ich hatte dich lieb und so wird es auch für immer sein." um. Die Steine knirschen unter seinen Füßen, als auch er den Friedhof verlässt. Kurz darauf heult ein Motor auf und ein Auto entfernt sich.

Todesstille hüllt den Friedhof ein und schlingt mich mit ein. Die Leere frisst sich in mich und höhlt mich ganz aus. Was bin ich schon ohne Grace?

Der Regen prasselt auf meine Jacke und durchweicht sie. Die Kälte gelangt durch meine Haut und krabbelt in jede Zelle. Sie nagt an mir und lässt mich zersplittern wie ein Glas. Ich zerbreche in tausend Scherben und niemand kann mich daran hindern. Wird jemand sich irgendwann die Mühe machen und das Puzzle an Scherben zusammenfügen? Wird irgendwann jemand mein zerbrochenes Inneres wieder zum Leben erwecken? Wird irgendwann jemand hinter meine Fassade schauen und einen zerbrochenen Jungen sehen? Nur Grace konnte es tun.

Seufzend wende ich meinen Blick von der frisch aufgewühlten Erde ab und kehre um. Zurück in mein altes Leben, in dem es keine Grace gab, die mir den richtigen Weg gezeigt hat. Ich schüttele den Kopf um meine Gedanken von ihr zu lenken. Viele würden sich jetzt vornehmen sie zu vergessen. Ich versuche es erst gar nicht. Wie könnte ich die schönste Zeit meines Lebens vergessen? Wie könnte ich den einzigen Sonnenstrahl in der ganzen Finsternis einfach vergessen? Nein, ich muss aus der Vergangenheit lernen.

Erst als es dunkel wird und die Wolken sich auflösen, wobei vereinzelt Sterne auftauchen, verlasse auch ich den Friedhof. Der Schmerz in meiner Brust wird größer, je weiter ich mich von Grace entferne. Es ist als würde sie wollen, dass ich bei ihr bleibe. Aber sie muss doch wissen, dass ich sie nie verlassen würde. Morgen früh werde ich sie gleich wieder besuchen.

Die Lichter der Straßenlaternen kommen mir so unnatürlich hell vor, als ich mit meinem Auto wieder nach Hause fahre. Die Müdigkeit übermannt mich und ich trete auf das Gaspedal, um bald zu Hause zu sein. Plötzlich erklingt ihre Stimme in meinem Kopf und ich rutsche tiefer in den Sitz, während ich krampfhaft das Lenkrad umklammere.

Der Plan ist gut durchdacht. Eigentlich kann nichts passieren. Immer wieder hallen die Worte in mir nach, wie ein Echo. Doch es verklingt nicht. Es bleibt und je mehr ich über ihre Worte nachdenke, desto schuldiger fühle ich mich. Hätte ich mich nicht von den Fesseln befreit, hätte sie mich nicht gesucht. Wäre ich nicht in das Gebäude gestürmt, wäre sie niemals in den Raum gekommen.

Daran bist du Schuld! Nur du! Lukas hatte Recht. Ein Nebel an Schuldgefühlen umhüllt mich und quetscht mich ein, während mein Blick verschwimmt.
Daran bist du Schuld!
Der Plan ist gut durchdacht.
Du bist Schuld!

Ihre Stimmen hallen wie verirrt in meinem Kopf. Lukas zischt wütend, Grace spricht ganz ruhig.
Ja, ich bin Schuld!

Eine Welle überrollt mich. Eine Welle die mich zerstört! Schuld, Trauer und das Gefühl, dass man verloren hat, strömen auf mich ein und meine Konzentration weicht von der Straße.

Der Nebel um mich wird dichter und ich falle. Ich falle ins Nichts. Niemand, der mich stützt, niemand der mir raushilft. Ich falle und falle, immer tiefer.

Mit einem Ruck haben meine Augen wieder die Straße wahrgenommen. Helle Lichter, direkt vor mir, ungebremst und immer näher kommend. Meine Hand reißt das Lenkrad auf die andere Seite, auf die richtige Seite. Ich bin abgekommen!

Die Lichter kommen näher und näher.
Die Dunkelheit weicht, die Lichter blenden mich.
Das Quietschen bremsender Autos ertönt.
Und dann ein Knall.

Ich werde auf die Seite geschleudert, während Glas splittert, sich in meine Haut bohrt.
Lärm, so laut, dass es mich fast taub macht, sich in meinen Kopf frisst und einen Schauer durch meinen Körper jagt.

Ich spüre Schmerzen, Qualen. Sie wollen mich zerreißen, mich von außen auffressen.
Und plötzlich nichts. Der Lärm verblasst, die Qualen verschwinden, die Dunkelheit wird durch einen weißen Nebel ersetzt.
Mein Körper entspannt sich und ich fühle mich wohler.

"Liam."
Ihre Stimme! Graces Stimme hallt durch den Nebel. Ich drehe mich zu allen Seiten um, kann sie aber nicht sehen.
"Liam!"
Näher, viel näher! Und dann sehe ich sie.

Zuerst den Umriss ihrer zierlichen Gestalt, dann lichtet sich der Nebel. Ich sehe ihre wundervollen Augen, ihre langen, braunen Haare, die vom Wind wild durcheinander gewirbelt werden.
Mittlerweile steht sie direkt vor mir. Ihr Atem streift meine Haut wie ein leichter, angenehmer Wind.
Vorsichtig strecke ich meine Hand nach ihr aus. Zart berühre ich ihre Wange, als hätte ich Angst, dass sie sich bei der kleinsten Berührung auflöst und einfach verweht.
Ihre weiche Haut unter meinen Fingern, ihre Augen, die mich anschauen - sie ist es!

"Grace.", hauche ich. Meine Worte schallen durch den fast nicht mehr vorhandenen Nebel und lösen sich mit ihm auf. Graces Mundwinkel ziehen sich nach oben, auf ihren Lippen formt sich das Lächeln, das ich so an ihr liebe. Das Lächeln, das ihre Augen zum Strahlen bringt und mein Herz mit Wärme erfüllt.

Die zehnte GabeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt