Kapitel 7

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"Grace?" Renée hakt sich bei mir unter, während sie versucht ein Gummibärchen in die Luft zu werfen, um es dann mit dem Mund aufzufangen - vergebens.
"Ja?" Ich drehe meinen Kopf so, dass ich ihr in die Augen schauen kann, doch ein Kissen versperrt mir die Sicht.

"Was ist zwischen Lukas und dir geschehen?"
"Das hört sich so an, als habe ich ihn verprügelt.", bringe ich grinsend über die Lippen, dabei weiß ich ganz genau, dass ich Lukas nicht auch nur ein Haar krümmen kann.
Renée setze sich kerzengerade auf. "Und hast du?"
"Natürlich nicht!", wiederspreche ich sofort. Ich will nicht wissen, was Renée sich gerade ausmalt.
"Dann raus mit der Wahrheit", drängelt Renée und tastet die Bettdecke nach dem Gummibärchen ab.
"Ach, es ist nicht wichtig", winke ich ab.

Obwohl ich Renée schon ewig kenne, kann ich nicht sicher sagen, wie sie darauf reagieren würde, wenn ich ihr von dem Wangenkuss erzählen würde. Vor allem nicht, nachdem die Nachricht von der Heirat mit Jack ihre ganze Welt auf einen Schlag zertrümmert hat.
Renée schiebt das Kissen zur Seite und greift vorsichtig nach meiner Hand. "Du kannst mir alles erzählen."
Ich beiße mir auf die Lippe. "Ein ander Mal."
Renée soll nicht Lukas und mich im Kopf haben, wenn ihre Probleme sich auf eine ganz andere Person beziehen.

Als ich ihrem Blick ausweiche, fällt mir meine Schultasche auf dem Boden auf.
"Ich sollte gehen", murmele ich, ignoriere Renées glänzenden Schimmer in den Augen.
Nachdem ich die Tasche über meine Schulter gezogen habe, greift Renée nach meinem Handgelenk.
"Versprichst du es mir?", fragt sie, brennt völlig darauf, endlich zu wissen, was passiert ist, doch ich weiß, es würde ihr nur noch mehr zusetzen.
Ich lächle. "Aber klar." Ich schnappe mir ein Gummibärchen. "Versprochen."

Auf dem Weg nach Hause fängt es an zu schütten, doch ich habe keine Jacke dabei, weshalb ich völlig durchnässt werde. Ich höre ein Auto näher kommen, quietschend neben mir haltend, wobei das Wasser aus einer Pfütze auf meine Jeans spritzt.

Ich drehe mich mit Schwung um, will den Fahrer auf die falsche Straßenseite aufmerksam machen, da wird die Scheibe heruntergelassen und der Junge aus der Schule der Normalen lehnt sich aus dem Fenster.
"Komm, steig ein."
Ich schüttele den Kopf, dabei bleibt mein Haar im Gesicht hängen. Mit einer knappen Handbewegung streiche ich es mir hinters Ohr.
"Du fährst auf der falschen Seite", stelle ich fest und laufe weiter, während das Auto mir in Schrittgeschwindigkeit folgt.
"Na und? Außer uns Beiden ist hier alles leer. Und jetzt steig schon ein."

Seinen Blick meidend, beschleunige ich meine Schritte. Ich möchte raus aus dem Regen, hinein in mein warmes Zuhause, weg von ihm. "Niemals."
Er runzelt die Stirn. Ich sehe in seinen grünen Augen, dass er mir nicht glaubt. Ich selbst kann kaum dem trockenen Auto wiederstehen.
Ein Lächeln bildet sich auf seinen Lippen, was mich zum Schmunzeln bringt. Ich mag es, mich mit ihm zu unterhalten, Kontakt mit einem Normalen zu haben, auch wenn meine Eltern mir dies immer verboten haben. "Niemals ist ein großes Wort."

Ich zucke die Schultern, wende mich von ihm ab. Meine Eltern wären enttäuscht von mir, wenn sie mich so sehen würden. Lukas, Renée, alle wären enttäuscht.
"Grace, ich weiß, dass es schwer-"
"Du weißt nichts." Ich unterbreche ihn gnadenlos. Ich will mir nicht anhören, dass unsere Gesellschaft jeglichen Kontakt mit anderen Klassen als Verrat ansieht, vor allem bei uns Reichen. "Du glaubst, du weißt wie es bei uns zugeht. Du hast keine Ahnung!"

Er merkt, dass das Thema nur im Streit endet, womöglich eskaliert, deshalb lenkt er unser Gespräch schnell in eine andere Richtung.
"Ich habe dich heute gar nicht gesehen."
Ich zwinge mich zu einem Lächeln. "Ich habe es genossen, dir nicht über den Weg zu laufen."
Der Junge verdreht seine Augen."Schade. Ich dachte, jetzt kommt so was wie 'Ich habe dich sehnsüchtig vermisst'."
"Das wirst du nie von mir zu hören bekommen."

Jeder Schritt führt nicht nur mich, sondern auch ihn näher zu mir nach Hause. Ich hoffe, Lukas hat heute das Joggen bleiben lassen. Er würde durchdrehen, wenn er uns entdecken würde. Vielleicht würde er annehmen, dass ich noch nicht bereit für mehr mit ihm bin, weil mir ein Normaler den Kopf verdreht hat, was definitiv nicht der Fall ist. Oder er würde meinen, ein Normaler belästige mich.

"Hör auf, mich zu nerven", gebe ich von mir, bin selbst überrascht von meinen Stimmungsschwankungen.
"Würde ich dich nicht nerven, dann frage ich mich, worin das vergangene Nacht geendet hätte."
Ich zucke zusammen. "Reicht dir ein Danke nicht?"
"Nein." Mehr sagt er nicht, doch es reicht, um mich an die Grenzen meiner Wut zu bringen. Kein Reicher hätte ihm ein Danke geschenkt - das muss ihm also von mir genügen.

Ohne ihn weiter zu beachten, beschleunige ich, doch weit komme ich nicht, denn dann spüre ich einen Griff um mein Handgelenk, der mich zum Auto zieht.
"Lass das!", zische ich, was der Junge nur mit einem Kopfschütteln quittiert.

Ganz langsam wandern seine Finger zu meinen, er legt seine Hand vorsichtig als würde ich bei der nur kleinsten Bewegung zerbrechen unter meine.
"Kein Nagellack?", fragt er und betrachtet meine Finger.
Ich will ihm meine Hand entziehen, doch seine Finger schlingen sich um meine.
"Kein Nagellack", bringe ich zögernd über die Lippen, mag seinen intensiven Blick auf mir nicht. "Was willst du nun wissen?"

Seine Art zu spielen, mit mir zu spielen, habe ich schon längst durchschaut.
"Nichts, dieses Mal zumindest." Es klingt als sei er sich sicher, dass sich unsere Wege noch öfter kreuzen werden. "Ich will nur, dass du einsteigst."

Ich schaue ihn flehend an, zerre an meiner Hand - vergebens. "Du kennst meine Antwort."
"Ja, kenne ich." Er grinst mich frech an.
"Du bist..."
"Also bitte! Keine Beleidigungen", unterbricht er mich, doch ich sehe ihm an, dass es ihm gefällt, dass ich es in Erwägung gezogen habe, eine Beleidigung zu benutzen. Will er mein schlechtes Benehmen aus mir holen?
"Die hast du aber verdient!", motze ich ihn an
"Vielleicht."
Er lächelt und lehnt sich leicht aus seinem Auto.
Sofort will ich ein paar Schritte zurückweichen, aber das geht durch meine Hand nicht.

"Na gut", sage ich und senke geschlagen den Kopf.
"Du täuschst mir das bloß vor", sagt er und fährt mit einem Finger über meinen Handrücken, was bei mir für eine Gänsehaut sorgt.
Ich schließe kurz die Augen über die Berührung und genieße sie einfach.

Die zehnte GabeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt