Kapitel 23

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Ich wache durch Geschirrgeräusche auf.
Zuerst frage ich mich, warum ich überhaupt auf dem Sofa liege. Doch dann strömen die ganzen Erinnerungen von letzter Nacht auf mich ein.
Ich erhebe mich, stehe auf und laufe in die Küche.
Dort steht Liam und kocht gerade. Naja, Frühstück machen bezeichne ich eigentlich nicht als kochen, aber Liam scheint das nicht so oft zu machen, so wie die Küche aussieht.
Fassunglos schüttele ich den Kopf, stelle mich neben ihn und nehme ihm die Pfanne aus der Hand.
Dann begutachte ich das ... äh was ist das?
"Soll das Pfannenkuchen sein?", frage ich und brauche sehr viel Fantasie um das zu erkennen.
Liam grinst. "So ungefähr."
Na gut, also erstens esse ich eigentlich nie Pfannenkuchen und zweitens ist das super ungesund. Aber das sage ich natürlich nicht. Wohlmöglich hat Liam sich noch viel Mühe gegeben und ich enttäusche ihn, weil er so stolz auf seine Arbeit ist.
"Kann man das überhaupt noch essen?", frage ich weiter.
"Was willst du denn sonst damit machen? Bemalen und an die Wand hängen?"
Ich grinse.
"Wollte ich gerade machen."
"Aber gerne. Wo sind Pinsel?"
Liam legt den Kopf schief und starrt mich mit seinen grünen Augen an.
"Das ist nicht dein Ernst!"
"Natürlich nicht, Miss Reich. Und jetzt gibts erstklassiges Frühstück."
Er nimmt mir die Pfanne ab und holt Teller.
"Ich habe dir gar nicht erlaubt, hier zu bleiben", sage ich, während er zwei Teller auf den Tisch stellt.
"Ich habe mich selbst eingeladen", sagt Liam und setzt sich an den Tisch.
"Und ich lade dich wieder aus."
"Zu spät. Du-"

"Grace! Ist das etwa ein 'Normaler'?"
Ich drehe mich um und sehe meinen wutentbrannten Vater im Türrahmen stehen.
Bei seinem Tonfall zucke ich zusammen und senke den Blick.
"Ähm-", fange ich an, werde aber unterbrochen.
"Grace! Was hängst du mit einem 'Normalen' ab? Er ist nicht gut für dich!", brüllt mich mein Vater an.
Liam steht auf und schaut zu mir.
"Das verstehen Sie bloß falsch. Ich bin der ... Nachhilfelehrer, weil sie in Mathe nicht so gut ist."
Ich verziehe das Gesicht.
Ich bin in Mathe mehr als nur gut und das weiß mein Dad auch.
"Er meint Musik, nicht Mathe", verbessere ich ihn schnell.
"Das würde ich euch ja fast glauben, wenn da nicht ein paar Teller auf dem Tisch stehen würden. Ist es etwa normal, dass man mit seinem Nachhilfelehrer frühstückt, Grace?"
Ich grinse und antworte mit dem Lieblingssatz meiner Mutter. "Man muss immer höflich sein."
Mein Dad zieht eine Augenbraue hoch. Ich bewundere Leute, die das können, da ich das leider nicht kann.
"Na gut. Aber ich glaube, dass er jetzt gehen sollte." Das er betont er etwas abfällig.
Ich nicke und laufe mit Liam zur Tür, während mein Vater im Bad verschwindet.
Vermutlich um sich beruhigen, da seine Tochter mit einem 'Normalen' abhängt.
"Tja, das wars dann, Mister Nachhilfelehrer", sage ich und schiebe Liam aus dem Haus.
"Kommt dir wahrscheinlich genau passend, dass dein Vater gekommen ist, oder?"
Ich nicke.
"Ich würde es keine Sekunde länger mit dir aushalten."
Liam will etwas sagen, aber ich lasse ihn nicht dazu kommen.
"Danke", sage ich ehrlich. Ich hätte nie gedacht, dass ich mal nichts Bissiges oder Unfreundliches zu ihm sage, deshalb überrasche ich mich auch selbst.
Und so sieht Liam auch aus. Überrascht.
"Ähm, für was?", fragt er und bekommt fast seinen Mund nicht mehr zu.
"Heute Morgen", antworte ich und bevor er noch mit irgendetwas in Richtung 'So schlimm bist du gar nicht' oder 'Wir könnten noch gute Freunde werden' kommt, mache ich die Tür zu und lasse Liam draußen stehen.

Mein Vater sitzt am Tisch und starrt auf den freien Stuhl.
"Ich will das nie wieder sehen", bringt er nach einigen Sekunden der Stille über die Lippen und schaut mir in die Augen.
Ich nicke.
"Weißt du, was das für eine Schande ist, wenn irgendjemand erfährt, dass du mit einem 'Normalen' abhängst? Und denk an Lukas!"
Ich verdrehe die Augen. War mir klar, dass das jetzt kommen musste.
"Ich weiß.", gebe ich kleinlaut zu.
"Verbringe mehr Zeit mit Lukas. Das habe ich dir schon öfters vorgeschlagen."
Ja, zu oft. Ich kanns echt nicht mehr hören!
"Wo warst du gestern? Ich habe dich gesucht."
"Ich..."
Ich setze mich auf den Stuhl und beuge mich vor.
"Ja?"
Mein Vater schaut zu mir.
"Nicht so frech!", zischt er mich an.
"Tut mir leid.", sage ich und senke den Blick.
"Ich war an der Mauer."
"Ah ja, Sonnenuntergang anschauen, Wasser betrachten, ... willst du mich eigentlich verarschen? Wo warst du?"
Niemals geht mein Vater an die Mauer, das weiß ich bestens.
"Ich war mit Geschäftskollegen essen.", lügt mich mein Vater erneut an.
"Das hat die Frau an der Rezeption aber nicht mitbekommen." Ich muss die nächste Frage stellen. Sie drängt geradezu aus mir heraus zu platzen. "Warst du mit einer Frau alleine?"
Mein Vater senkt den Blick, was für mich eindeutig ein 'ja' ist.
Eine Wut, die sich in mir angestaut hat, dringt bis an die Oberfläche durch.
"Wie kannst du Mum das antun?" Ich springe vom Stuhl auf. "Warum machst du das? Bist du gestört?"
"Grace, ich..."
"Sei leise! Ich will es nicht hören!"
Ich schüttele fassungslos den Kopf.
"Mum ist tot und du vergnügst dich einfach mit einer anderen Frau. Toller Mann."
Mein Vater steht wütend auf, wobei der Stuhl nach hinten kippt und auf dem Boden landet.
"Hau ab, Grace!", brüllt er mich an. "Hau ab, bevor ich dir weh tue!"
Ich zucke zusammen, drehe dann aber einfach um und verschwinde mit meiner Jacke nach draußen.
Ich gehe zu Renée, aber dann fällt mir ein, dass heute der Familientag bei ihnen ist und da machen die immer was zusammen.
Ich schlucke. So etwas gab es bei uns nie. Wir waren nie eine 'Familie'. Jetzt erst recht nicht.

Also laufe ich zur Mauer und schaue von meinem Lieblingsplatz aus auf das stürmische Meer.
Doch keine drei Minuten später packen mich kräftige Arme und ziehen mich von der Mauer runter und zehn Meter davon weg.
Ich fange an zu schreien, aber mir wird der Mund zugehalten.
Dann werde ich abrupt losgelassen und lande mit dem Rücken auf dem Boden.
Ich schaue hoch und direkt in das Gesicht eines Wächters.
"Was-"
"Ihr 'Reichen' kapiert aber auch nichts, oder? Ist die Warnung bei euch noch nicht angekommen?", sagt der Mann mit tiefer Stimme.
Ich rappele mich auf und stelle mich ihm gegenüber auf.
"Welche Warnung?"
Der Mann verdreht die Augen.
"Niemand soll mehr an die Mauer, außer uns Wachen."

Die zehnte GabeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt