Renée und ich schauten noch unseren Lieblingsfilm an und sie hat sogar über unseren Lieblingsschauspieler gelacht. Es hat echt gut getan, sie lachen zu sehen.
Aber innerlich hat sich bei ihr nichts verändert.
Jack wird morgen richtig was erleben. Und wenn ich sauer bin, kann ich auch mal brutal werden. Da muss man bloß Lukas fragen. Der hat schon seine Erfahrungen damit gemacht.
Okay, das ist aber auch damit zu entschuldigen, dass ich damals sechs Jahre alt war. Ziemlich unschön diese Geschichte, aber es ist gut zu wissen, dass Lukas immer darüber lacht, wenn wir darüber reden. Das zeigt mir, dass er mir verziehen hat.
Gegen neunzehn Uhr fahre ich nach Hause, nachdem mich Renées Mutter dazu überredet hat, beim Essen noch da zu bleiben. Bei so einer netten Bitte kann man aber auch nicht nein sagen.
Dann räume ich ein wenig das Haus auf, eigentlich eher nur Mums Zimmer. Die Beerdigung wird schon in drei Tagen sein, weshalb mein Vater in den nächsten drei Tagen das Krankenhaus verlassen darf und wenn er dann die ganzen Sachen sieht, die ihn an Mum erinnern, kann das nur erneut schief gehen.
Ich selber brauche über vier Stunden, bis ich alles, außer den Bildern an der Wand verstaut habe. Diese Bilder kann ich nicht einfach entsorgen.
Sie zeigen meinen Vater, meine Mutter und mich als eine glückliche Familie.
Ich verlasse das Zimmer und schließe es ab.
Dann lege ich mich in mein Bett und mache das Licht aus.
Lange wälze ich mich von einer Seite zur anderen und wieder zurück, aber irgendwann erlöst man mich durch einen schönen Traum.Durch einige Tage ohne Schule, ist es für mich am nächsten Morgen besonders schwer aus dem Bett zu kommen und mich aus dem Haus in Richtung Schule zu schleifen.
Aber heute darf ich alles andere als müde sein! Heute werde ich Jack eine knallen. Und das vor den Augen der anderen, Beliebtheitsstatus hin oder her.Zielsicher betrete ich das Gebäude und werde auch gleich von Renée stürmisch umarmt.
"Hätte nicht gedacht, dass du wirklich kommst", sagt sie und schiebt mich zu den Schließfächern.
"Aber theoretisch hättest du noch länger schlafen können."
Sie zeigt mit einem Finger auf den Vertretungsplan.
"Och ne", sage ich und sehe, dass Biologie ausfällt.
"Habs auch gerade erst gesehen, sonst hätte ich dich informiert."
Ich grinse.
"Ich verdrück mich einfach in die Bücherei", murmele ich und Renée lacht.
"So wie das halt alle machen. 'Bücher ausleihen'."
Dann verschwindet sie im Musikraum, während ich zur Bücherei laufe.
Ich mag die Bücherei. Sie ist sogar im Winter super warm, hat einen angenehmen Büchergeruch in der Luft und wirklich tolle Ecken, in die man sich verkriechen kann, um seine Ruhe zu haben.
Was ich jetzt auch vor habe.
Die Frau an der Theke grüßt mich freundlich, was mich dazu veranlasst, ein Buch zu nehmen und mich damit zwischen den bestimmt über fünfzig Regalen zu verkriechen.
Jedoch ist meine Ecke mit dem bequemen Stuhl an einem kleinen Holztisch zwischen zwei riesigen Regalen schon belegt. Frechheit!
Also ziehe ich mir einen Stuhl an den Tisch und starre in das Buch.
Mein Gegenüber lässt das Buch, dass die ganze Zeit vor dem Gesicht war, sinken."Hey", murmelt Noelle, eine aus dem Biologie-Kurs.
"Hi."
Noelle zeigt auf mein Buch.
"Dein Ernst?"
Ich drehe das Buch so, dass ich sehe, was für ein tolles Werk ich ergattert habe.
Ein Kinderbuch! Okay, eigentlich für Fünftklässler.
Ich schaue mir ihres an. "Deins ist nicht besser. Noch dazu hebst du es falsch rum."
Blitzschnell dreht Noelle das Buch um.
"Muss nur so aussehen, als würden wir uns wirklich für diese blöden Dinger interessieren."
"Das Ding ist ein Buch."
"Für mich ist es ein Ding. Und, wo warst du so?"
Ich runzele verwirrt die Stirn.
"Na, du warst doch die letzten paar Tage nicht da."
"Ach so, das meinst du. Ich war krank."
Noelle nickt.
"Du Arme. Stimmt, Lukas hat das ja auch gesagt."
Noelle beugt sich über den Tisch.
"Er hat dich richtig vermisst."
Ich zucke mit den Schultern und Noelle macht einen entsetzen Gesichtsausdruck.
"Man, ich wäre froh, wenn es jemanden gäbe, der mich so vermisst, wenn ich mal drei Tage nicht in der Schule bin. Abgesehen von Jessica."
Jessica ist Noelles beste Freundin.
Erneut zucke ich mit den Schultern.
"Na gut. Offensichtlich willst du nicht darüber reden."
Da hat sie Recht. Ich redete nur mit Renée über Lukas. Allen anderen habe ich auch noch nie ein Wort erzählt.
Noelle schaut kurz in ihr Buch, aber dann gleich wieder zu mir."Oh man, das ist voll gruslig", murmelt sie, was mich total verwirrt.
"Was?", frage ich nach, da mich die Neugierde packt.
Noelle lächelt und schlägt das Buch lautstark zu.
"Du darfst es auf keinen Fall weitererzählen."
Ich nicke.
"Gut. Warum auch immer vertraue ich dir. Also, meine Mutter arbeitet bei der Presse."
Oh man, das erinnert mich schlagartig an die Frau aus der U-Bahn.
Noelle beugt sich näher zu mir, als hätte sie Angst, dass man uns belauschen könnte.
"Da erfahre ich natürlich immer die ganzen Neuigkeiten ehe sie an die Öffentlichkeit gelangen. Du weißt von den Wachen? Sorry, blöde Frage, wer weiß das denn nicht?"
Sie holt Luft, während sie mit ihrem Finger Kreise auf dem Buch malt.
"Es wurde noch nicht veröffentlich, damit die Bevölkerung nicht unruhig und panisch wird, aber sie haben ein Video davon, wie ein Wache einfach so verschwunden ist."
Sie lacht kurz.
"Soll ziemlich grausam sein. Aber das Tolle an dem Video ist, dass man immer noch nicht die Ursache weiß."
Ich lehne mich zurück.
"Nicht mal eine Vermutung oder irgendetwas, womit man etwas anfangen kann?", frage ich und unterbreche Noelles Schilderung.
"Natürlich. Sonst wäre das Video schon längst veröffentlicht. Es gibt eine Vermutung."
Ich schlucke. Will ich es wissen? Es wird schon Gründe geben, warum das Video noch nicht an die Bevölkerung weitergetragen wurde.
"Und diese Vermutung ist?", hake ich nach und gebe Noelle zu verstehen, dass ich es wissen will.
Diese legt das Buch ganz unsanft auf die Seite und trommelt mit ihren langen lilanen Fingernägeln auf den Tisch.
"Naja, wie soll ich es sagen? Man nimmt an-"
"Grace!"
Ich schlage unbewusst mit der Hand auf den Tisch und drehe, genau wie Noelle meinen Kopf zu Lukas, der mich freudig anschaut.
"Lukas, jetzt nicht", sage ich und bereue es gleich, als ich seinen verletzten Blick sehe.
"Ach Quatsch! Ich gehe einfach, dann könnt ihr beide ungestört hier treiben, was ihr wollt", sagt Noelle und steht auf.
"Aber-"
"Danke", sagt Lukas und unterbricht mich.
Dann schnappt sich Noelle ihr Buch und lächelt mich an. "Nächstes Mal, versprochen."
Sie dreht sich um und will schon gehen, als sie sich noch einmal zu uns umdreht. "Äh und bitte nicht so laut sein. Wir wissen ja alle, was gewisse Leute hier schon gemacht haben. Ihr wollt doch nicht deren Platz einnehmen?"
Mit einem fetten Lächeln lässt sie mich mit Lukas alleine, auf den ich gerade unbeschreiblich wütend bin.Ich stehe auf und nehme mein Buch.
"Was willst du-"
"Nicht jetzt", sage ich und will an Lukas vorbei, aber er packt mich sanft an meinem Arm und dreht mich zu sich.
"Grace, ich will bloß mit dir reden", sagt er ruhig.
Ich schaue in die blauen Augen und muss mit viel Kraft die Wut in mir unterdrücken, damit ich ihn nicht anbrülle.
"Und ich will das nicht", zische ich ihm zu.
Lukas Griff lockert sich und ich sehe, dass er schockiert ist. Doch nicht etwa von mir?
"Was habe ich getan, dass du jetzt so komisch bist?"
Was er getan hat? Er hat mein Gespräch mit Noelle unterbrochen! Und sie hätte mir sehr interessante Dinge erzählt, die mir niemand anderes erzählen kann.
Doch anstatt das alles zu sagen und Lukas dadurch zu verwirren, zwinge ich mich zu einem "Lass mich einfach in Ruhe. Bitte.".
Er nickt und lässt mich los.
In schnellem Tempo verlasse ich die Bücherei, aber nicht, bevor ich das Kinderbuch wieder an seinen Platz gestellt habe.
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Die zehnte Gabe
FantasyGrace lebt mit ihren reichen Eltern auf Onaria, einem Planeten, der unbekannt für uns Menschen ist. Jeder dort verfügt über eine Gabe, welche Grace jedoch noch nicht entdeckt hat. Mit gerade einmal 17 Jahren weiß sie schon, wen sie in naher Zukunft...