Den restlichen Abend und die halbe Nacht hatte ich mir den Kopf zerbrochen, wie ich dem Mädchen helfen könnte. Letztlich, kurz bevor meine Augen so schwer wurden, dass sie zufielen und ich einschlief, kam mir die Idee, einfach nochmal von vorne anzufangen. So würde ich ihr Vertrauen zu mir langsam wieder aufbauen und wenn ich lang genug dran bleibe, würde sie anfangen mit mir zu reden.
Es fühlte sich an, als hätte ich nur Minuten geschlafen, statt ein paar Stunden, als ich wie ein Irrer auf meinen Wecker einschlug. Hoffentlich war Niall dadurch nicht wach geworden. Ich knipste mein kleines Nachtlicht an, um mich zurecht zu finden. Mit einem kleinen Blick zu Niall stellte ich fest, dass er eingerollt und schnarchend dalag. Meine Lippen verzogen sich zu einem kleinen Lächeln, ehe ich mich aus dem Bett schwang und Socken anzog. Bevor ich Cornflakes in meinen Mund löffelte, machte ich mich im Bad mit einer kurzen, kalten Dusche frisch. Mit halbwegs vollem Magen zog ich mich an und schnappte mir die Autoschlüssel. Als ich nochmal alles abcheckte, damit ich ja nichts vergesse, drang Nialls Schnarchen aus dem Schlafzimmer in den Flur und entlockte mir ein Schmunzeln.
Mit dem Schlüssel in der Hand trabte ich die Treppen hinunter und verließ das Haus. Ich drehte die Schlüssel um meinen Finger, während ich auf meinen Wagen zuging. Der Schlüssel wäre mir beinahe aus der Hand gefallen, als ich ihn elegant auffangen wollte, um den Wagen aufzuschließen. Als der Schlüssel gerettet war, steckte ich ihn in das Schloss der Fahrerseite und drehte ihn um, sodass der kleine Pin auf der Innenseite emporschoss und mir damit bedeutete, dass ich einsteigen durfte. Schwungvoll öffnete ich die Tür und stieg ein. Ich drehte den Schlüssel im Zündschloss und ließ den Motor aufheulen. Dann sauste ich durch die Straßen, bis zur Klinik.
Mein Weg führte mich gradewegs zu Dr. Williams Büro. Als ich klopfte, hörte ich ein gedämpftes „Herein". Schnell strich ich mir das Shirt glatt, welches ich vom Boden aufgegabelt hatte und trat dann ein. Dr. Williams sah aus, wie jeden Tag; weißes Outfit mit hochgebundenen Haaren.
„Guten Morgen", sagte ich beim Schließen der Tür. Sie blickte von den Papieren auf und nickte mir zu. Dann senkte sie ihn wieder hinab auf die Papiere vor sich und unterschrieb eines davon. Ich dachte, es wäre unangebracht, sie danach zu fragen, also wartete ich, bis sie alles erledigt hatte. Währenddessen schaute ich mich in den kleinen Raum etwas um, bis mein Blick das Fenster fand. Viel sehen konnte man nicht, nur Baumkronen und Teile der Straße. Ein leises Klappern holte mich aus den Gedanken über das Mädchen. Ich schaute zu Dr. Williams, die grade vorsichtig eine weiße Tasse auf den Unterteller stellte. Etwas von der Flüssigkeit, ich dachte, es wäre Kaffee, bildete eine kleine Pfütze auf dem weißen Porzellan.
„Sie bekommt gleich Frühstück", unterbrach Dr. Williams die Stille, die zwischen uns lag und schaute mich an. „Geh bitte in die Küche und hol es ihr. Danach treffen wir uns vor ihrem Zimmer." Mit diesen Worten drehte sich die Frau mit ihrem Drehstuhl um und kramte in Ordnern herum. Ich nickte, obwohl sie es nicht mehr sehen konnte und drehte mich um zur Tür.
In der Küche war wildes Treiben. Der Küchenchef, der für alle Insassen ein Frühstück zubereiten musste, brüllte verschiedene Befehle quer durch den Raum zu seinen Köchen, die hastig von einem Regal zum nächsten liefen. Einer von ihnen hätte mich beinahe umgerannt, wäre ich nicht auf Seite gegangen. Ich versuchte, einen von ihnen anzusprechen, in der Hoffnung, sie könnten mir sagen, wo das Essen von dem Mädchen ist, doch sie waren alle viel zu beschäftigt.
„Du! Steh hier nicht so rum!", blaffte mich der Küchenchef an.
„Ich brauche das Frühstück für jemanden", erwiderte ich und nannte dem Mann, der bereits eine Halbglatze hatte und einen ziemlich dicken Bauch, die Zimmernummer des Mädchens. Er stöhnte bloß genervt auf und drückte mir ein Tablett in die Hand. Leise bedankte ich mich bei ihm und verließ die Küche.
Der Gang schien sich zu strecken; es kam mir vor, wie eine Ewigkeit, bis ich die Tür vom Zimmer des Mädchens erreichte. Vermutlich war Dr. Williams darauf vorbereitet, dass ich etwas länger brauchen würde. Sie stand dort vor der Tür, einen Kuli in den unordentlichen Knoten gesteckt. Ihr Blick fand meinen und sie begann zu lächeln. Als ich sie erreichte, öffnete sie mir die Tür. Das Mädchen saß, wie immer, in ihrer Ecke. Mit einem Blick zu Dr. Williams, versicherte ich mich, ob ich wirklich reingehen durfte. Als sie nickte, holte ich tief Luft und betrat den engen Raum. Ich stellte das Tablett vor ihr ab, woraufhin sie sich von mir wegdrehte und zu zittern begann. Schnell drehte ich mich um und ging zur Tür zurück. Das Mädchen rührte sich nicht.
„Worauf warten Sie? Arbeiten Sie mit dem Mädchen", flüsterte mir Dr. Williams zu, als ich fast aus dem Zimmer gegangen war. Ich schaute sie einen Moment an. Sie erwiderte meinen Blick ruhig. Dann nickte ich und drehte mich um. Nach wie vor saß das Mädchen mit dem Rücken zum Tablett in der Ecke. Mit großen, aber langsamen Schritten ging ich zurück zu ihr.
„Hey. Es ist alles gut. Das ist dein Frühstück", begann ich, woraufhin sie sich ein Stück zu mir drehte. Meine Lippen verzogen sich zu einem kleinen Lächeln, während ich mich langsam hinkniete.
„Du kennst mich doch. Du kannst mir vertrauen", sagte ich ruhig. Meine Knie knackten leicht, als ich in der Hocke saß. Da es aber zu unbequem wurde, setzte ich mich kurzerhand auf den Hosenboden. Einige Minuten vergingen, bis sie sich regte und ganz umdrehte. Langsam streckte sie ihre Hand aus und nahm sich das Toast, von dem sie winzige Bisse zu sich nahm. Ich schaute ihr still beim Essen zu. Immer wieder fragte ich mich, was ihr wiederfahren war. Als ich sie zum ersten Mal deutlicher musterte, fiel mir auf, dass sie nicht viel älter war, als ich. Die kindlichen Züge waren noch immer nicht verschwunden. Sie hatte mittlerweile die Hälfte des trockenen Brotes gegessen und dabei nicht einmal von mir weggeschaut. Immer wieder fanden sich unsere Augen, was ein leichtes, angenehmes Kribbeln in mir hervorrief. Was sie wohl grade denkt?
„Satt?", fragte ich sie, als sie das Brot aufgegessen hatte. Sie nickte, verzog ihre farblosen, dünnen Lippen zu einem kleinen Lächeln. Ich reichte ihr das Glas mit Wasser. Als sie es nahm, berührten sich unsere Fingerspitzen, was sie leicht zurückzucken ließ. Ihre großen Augen wandern von meiner Hand in mein Gesicht, zu meinen Augen. Was sie wohl grade verspürt hatte? Zögerlich griff sie erneut nach dem Glas. Genau wie davor berührten sich unsere Fingerspitzen. Diesmal zuckte sie nicht zurück. Nachdem sie das Glas fest in ihrer Hand hielt, löste ich meine Finger davon und beobachtete sie, wie sie trank. Genau wie beim Brot, nahm sie nur kleine Mengen in den Mund. Die Minuten verstrichen, bis sie komplett ausgetrunken hatte. Langsam stellte sie das Glas zurück aufs Tablett und schaute mich an. Ihre braunen Augen bekamen einen kleinen Funken Glanz, als ich ihren Blick erwiderte. Es kam mir vor, wie eine Ewigkeit, in der wir einfach nur da saßen und uns in die Augen blickten. Ein Knall unterbrach den magischen Moment zwischen uns. Ich drehte mich zur Tür, die ins Schloss gefallen war. Vermutlich war dies das Zeichen dafür, dass ich jetzt gehen sollte. Ich nahm das Tablett in die Hände und wollte aufstehen, doch eine kalte Hand ließ mich inne halten. Flehend blickte sie mich an und für einen kurzen Moment wusste ich nicht, was ich tun sollte.
„Ich bringe doch nur das Tablett weg. Nicht, dass noch irgendwas kaputt geht. oder du dich daran verletzt." Sie nickte leicht und zog ihre Hand von meiner, ließ mich aufstehen. Geschickt öffnete ich die Tür, wo Dr. Williams stand. Sie lächelte mich an und nahm mir das Tablett ab.
„Sie braucht dich jetzt da drin." Mit diesen Worten ging sie und verschwand hinter einer Ecke. Ich fuhr mir durch die Haare. Dabei kam mir eine Idee, mit der ich sie vielleicht zum Sprechen bringen könnte.
Langsam trat ich zurück ins Zimmer, wo das Mädchen aufgestanden war. Sie schien beinahe sehnsüchtig auf mich zu warten. Als ich ihr gegenüber stand, ich achtete auf einen gewissen Abstand, schaute ich zu ihr hinab. Ihr zierlicher Körper war etwas kleiner als meiner. Ich stellte mir vor, wie es wäre, mit ihr auf unserem Sofa zu sitzen und einen Film zu schauen. Sie in meinen Armen, dicht an mich geschmiegt. Ihre kalten Hände holten mich in die Realität zurück. Ich wand meinen Blick auf unsere Hände, die eine Verbindung zwischen uns herstellten. Ein kleines Lächelt zog sich über ihre Lippen. Wie gerne würde ich ihren Namen wissen.
„Ich werde bleiben", sagte ich und zog damit ihre Aufmerksamkeit auf mich. Ihre Augen begannen zu strahlen. „Unter einer Bedingung." Das Strahlen erlischt so schnell, wie es gekommen war. Sie schien abzuwägen, ob sie die Bedingung hören wollte. Dann sah sie mich wieder an und nickte leicht.
„Rede mit mir." Meine Stimme war kaum lauter als ein Flüstern.
***
Neverland3r xoxo

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Mute [*Abgeschlossen*]
Fiksyen Remaja»Und man weiß nicht, was mit ihr ist?« »Sie spricht nicht.« © Neverland3r 2014