KAPITEL 5

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Ich rannte. Der Geruch war noch immer in meiner Nase, seine toten Augen starrten mich an, wenn immer ich blinzelte.
Tränen liefen, doch ich war zu geschockt um zu schreien oder irgend etwas anderes zu sagen.
Ich wusste nicht wohin ich rannte.
Was ich damit zu bezwecken versuchte.
Ich wollte einfach nur in Bewegung sein, sodass ich mich lebendig und sicher fühlte.
Ich wollte weg von dem, was ich gerade gesehen hatte, auch wenn es mir überallhin folgte.

Ich sah es nicht.

Ich spürte es nicht.

Aber ich hörte es, drehte meinen Kopf und starrte in aufgerissene Augen, in denen sich Schock und Angst widerspiegelte.
Ich dachte an Jan's tote Augen und schauderte. Das Bild wollte nicht aus meinem Kopf verschwinden.

Dann, endlich, spürte ich es.
Der Schmerz breitete sich aus. Wurde stärker, betäubte meine gedämpften Sinne.

Den Aufschlag bekam ich gar nicht mehr mit. Dankbar hieß ich die Schwärze willkommen, die Leere, die Stille.
War ich endlich tot?

Ich wollte nicht aufwachen. Ich wollte nichts spüren und nichts sehen. Ich wollte mich nicht erinnern.
Also lag ich da, mit geschlossenen Augen. Hoffte, dass ich sie nie mehr öffnen musste, dass ich alles ausblenden könnte.
Dass ich in Sicherheit war, wenigstens für einen kurzen Moment.
Dass die Schwärze in meinem Kopf blieb, welche die Erinnerungen verdrängte und die Bilder gefangen hielt.

Als ich dann trotz allem meine Augen öffnete, realisierte ich, dass ich nicht tot war.

Leider.

Vorsichtig sah ich mich um.
Durch eine Tür links drängte sich ein wenig Licht, sodass ich die Umrisse meiner Umgebung betrachten konnte.
Es dauerte nicht lange, bis ich verstand, wo ich mich befand.
Ich war in einem Zweibettzimmer eines Krankenhauses, das Bett neben mir, zu meiner Erleichterung, leer.

Was ist passiert? Mein Kopf schmerzte, als ich versuchte, mich zu erinnern.
Ich schloss meine Augen.

Ich sah ein Gesicht vor mir, diesmal jedoch nicht Jans, sondern das eines älteren Mannes. Seine Augen waren weit geöffnet und ihn ihnen spiegelte sich Schreck und Angst. Er versuchte verzweifelt wegzulenken oder abzubremsen. In der Scheibe sah ich die Spiegelung meiner Selbst.
Es war ein schwaches, verweintes Mädchen, unsicher und müde. Der Blick leer und auf den Boden gerichtet. Unfähig zu realisieren, was gerade passiert.
Ich erinnere mich an den Schmerz, der sich ausbreitete wie ein Parasit, als das Auto gegen mich schmetterte.
Dann wurde alles schwarz.

Zitternd wälzte ich mich hin und her, mein Körper betäubt, sodass ich nichts spürte außer den Schmerz meiner Seele.


Die Bilder holten mich ein.
Jan tauchte auf. Starrte mich mit seinen toten Augen an, schrie es wäre meine Schuld gewesen.
Ich weinte, wälzte mich weiter hin und her, aber er wollte nicht verschwinden.
Ich versuchte meine Augen geöffnet zu halten, versuchte nicht zu blinzeln. Er war trotzdem da. Ich spürte ihn, hörte ihn leiden.

Ich schrie
Plötzlich spürte ich etwas auf meiner Schulter. Hörte eine sanfte Stimme, verstand aber nicht was sie sagte. Meine Augen starrten in die Leere, unfähig zu sehen. Ich sah nicht mehr als farbige Flecken, die in dieser Leere schwebten.
"Wer...?" Flüsterte ich. Mehr schaffte meine Stimme nicht mehr. Waren sie schon da, um mich zu holen?

Wieder sagte jemand etwas, und auch wenn ich nichts verstand beruhigte es mich.
"Bin ich...." stotterte ich,
"bin ich tot?"
Ich hoffte es, so sehr.
Vielleicht war es feige von mir, aber ich wollte nicht mehr weiter. Meine beste Freundin ist verschwunden, vielleicht tot oder schlimmeres, und mir droht das selbe Schicksal. Okay, es IST feige, zu Wünschen ich wäre tot, aus Angst vor meiner Zukunft. Aber was soll ich sagen? Ich war noch nie besonders mutig gewesen.
Nicht so wie Julie.
Meine Augen begannen, meine Umgebung wieder scharf zu stellen. Langsam erholten sie sich von allem, und ich konnte wieder Umrisse erkennen. Nein, sogar mehr. Ich konnte sehen, wer vor mir stand.
Es war eine junge Frau, vielleicht 20 oder so. Ich war noch nie gut im Alter schätzen. Sie hatte schulterlanges, glattes, blondes Haar und ein kindliches Gesicht mit dicken Wangen. Sie sah mich mit ihren braunen Augen an, musterte mein Gesicht und lächelte.

"Guten Morgen, Kleine" sagte sie leise.
"Was...?" Ich brachte noch immer keinen Satz zu Stande.
"Alles ist gut" flüsterte sie, "du hattest nur ein kleines... Rendezvous mit einem Auto"
Ich nickte, um ihr zu zeigen, dass ich mich erinnerte.
"Ganz ruhig. Du hast Glück, dass du keine inneren Blutungen oder ernsthafte Schädelverletzungen hast. Wenn alles gut läuft bist du in einigen Wochen wieder draußen."
Hatte sie grad einige Wochen gesagt? Mein Körper begann zu zittern. Sie würden kommen. Ich ich wäre schutzlos, gefesselt durch die Folgen meiner Dummheit. Ich sah meinen Kopf auf der Schultreppe liegen, so wie Jan's es tat. Ich konnte mein Blut sehen, meinen Tod riechen, mein Leiden spüren.
Ich wollte nicht sterben. Nicht auf diese Art, nicht durch sie!
Meine Augen weiterhin aufgerissen, um diesen Bilder zu entfliehen, sah ich sie an.
"Bitte! Sie..." ich bekam noch immer keinen ganzen Satz zu Stande.
"Was hast du denn? Alles ist gut, entspann dich!"
Nein! Gar nichts war gut!
"Hilfe, ich brauche... Ihre ... Hilfe" winselte ich, in ihr meine letzte Hoffnung sehend.
"Was ist denn? Keine Angst, ich bin bei dir"
Sie verstand es nicht, sie verstand gar nichts! Verzweifelt versuchte ich der Angst zu entkommen, die aus den dunkelsten Ecken des Zimmers zu mir kroch. Ich zitterte, winselte und schwitzte. Aber die Frau schien nicht zu bemerken, in welcher Gefahr ich mich befand. Wie auch, wenn ich selbst nicht wusste, was noch passieren wird?
"Ruhe dich erstmal aus, du hast ziemlich etwas eingesteckt. Ich komm dann wieder, wenn du ausgeschlafen bist, okay?"
Nein, gar nicht war okay. Ich schüttelte panisch meinen Kopf.
"Bitte nicht, ich...."
Sie strich mir über meinen Kopf.
"Ganz ruhig. Du schläfst jetzt ein wenig und dann reden wir."
Ich starrte sie an.
"Nein!" Winselte ich.
Ich konnte jetzt nicht schlafen, nicht mit dem Wissen wie wehrlos ich wäre, ja sogar jetzt noch bin! Wie einfach sie mich finden und holen können. Sie brauchten mich nicht einmal betäuben.
Ich wollte fragen, welchen Tag wir hatten, wielange ich schon geschlafen hatte. Aber ich bekam keinen Ton raus.
Im meinen Augenwinkeln konnte ich sehen, wie sie eine Spritze in meine Armbeuge drückte.
"Nein, bitte, sie...." Flüsterte ich.
"Keine Angst Kleine, es ist nur zu deinem Besten. Ich werde da sein, wenn du aufwachst. Versprochen" sie nahm meine Hand und drückte sie.
"Alles ist gut."
Ich schüttelte verzweifelt den Kopf. Merkte sie nicht, dass sie mich damit umbringen konnte? Dass sie ihnen die Chance gab, mich zu holen? Konnte sie mir nicht einfach zuhören?
Es war alles vorbei. Mein Plan, den anderen zu helfen. Mein Wunsch, nicht durch sie zu sterben. Alles zerstört.
Aber warum bin ich noch hier? Warum haben Sie mich noch nicht früher geholt, wo es doch so einfach gewesen wäre? Haben Sie auf einen Moment wie diesen gewartet? Oder halten sie zu fest an ihrem Ideal fest, erst jeden dritten Tag jemanden zu holen?
Ich muss wissen, was für ein Tag heute ist!
Ich muss es... wissen.
Ich muss....
Sie...
Fragen...
was....

Scheiße.

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