KAPITEL 6

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Vielleicht sollte ich zur Polizei gehen, ihnen die Bilder zeigen und sie bitten, mir alles zu sagen, was sie wissen. Aber wahrscheinlich verhalten sie sich nicht besser als ihre Spezialeinheit, wollen mir nichts sagen um mich zu schützen. Ja, die Wahrheit tut weh, aber was kann schon schlimmer sein als das, was ich mir vostelle, solange ich keine Gewissheit hatte?
Nach Hause wollte ich auf keinen Fall, ich traute den Menschen nicht, die sich meine Eltern nannten. Ich starrte auf die schmutzigen Stufen und trauerte dem Menschen nach, der einmal ich war.
Ich fasste einem Entschluss- ich würde in jeden Fall und um jeden Preis herausfinden, was passiert ist. Knochen knackten als ich aufstand. Ich ging durch die "Stadtmitte", kaufte mir in der Kirche eine Kerze und ging in einen der einzigen Läden, der heute geöffnet hatte. Es war ein Blumenladen. Ich suchte mir eine gelbe Rose aus, viel zu überteuert aber das war es mir wert. Dann ging ich zurück zu der Schule. Ich legte die Rose auf die Stufen, da, wo sein Kopf gelegen hatte. Wenn ich meine Augen schloss, sah ich das Bild, und auch wenn ich mich nicht mehr an ihn erinnern konnte, fühlte ich mich verbunden. So wie es nur Freunde sein konnten.
Schweigend zündete ich die Kerze an und sprach ein kurzes Gebet. Ich wusste nicht, ob ich an Gott glaubte oder nicht, aber ich wollte nichts unversucht lassen, um seinen Tod so angenehm wie möglich zu gestalten. Es fühlte sich richtig an.

In der nächsten Nacht träumte ich wieder. Krampfhaft versuchte ich mich am morgen zu erinnern, aber ich wusste nur noch etwas von weißen Wänden und schmerzenden Lichts.
Meine Eltern sagten nichts zu meinen Ausflug gestern, sie fragten erst gar nicht. Ich war unendlich erleichtert darüber.
Ich würde heute zur Polizei gehen, und auch wenn ich keine Antwort bekomme, kann das Fragen ja nicht schaden. Ich muss es wissen, und dafür wurde ich alles menschenmögliche tun.
Meine Eltern gingen früh morgens zur Arbeit. Sie sagten mir nichts von einer Schule, die ich besuchen sollte, beziehungsweise weckten mich. Ich war ihnen also so egal wie sie mir. Gut.

"Hallo, kann ich ihnen helfen?" Vor mir hinter der Glasscheibe saß ein dicker Mann in Uniform. Er nuschelte seine Worte in seinen Schnauzer, in dem noch die Reste seines Essens hingen. Angewidert wandte ich meinen Blick ab.
"Jaa"
"Möchten sie ein Verbrechen melden?"
Er sagte seinen eingeübten Text, ohne mich dabei anzusehen.
"Nein, ich hab ... Fragen"
"Seh ich aus wie ein Reisebüro? Die Pressekonferenz war gestern nachmittag, da bist du ein bisschen zu spät dran"
Ich schluckte meine Angst.
"Ich bin Thalia Queen. Vor einigen Tagen bin ich auf einer verbrannten Lichtung aufgewacht, und alle lügen mich an, um mir die Wahrheit zu verschweigen."
"Wie kann ich helfen?"
Ich holte den Zeitungsartikel aus meiner Tasche und legte ihn auf den Tisch vor mir.
"Ist das wahr?" Fragte ich.
Seine Lippen bewegten sich, als er den Text las.
"Größtenteils. Hör mal, Kleine, dass hier ist wirklich nicht der richtige Ort und Zeitpunkt um an unserer Kompetenz zu zweifeln"
Ich nickte. "Darauf wollte ich gar nicht hinaus. Ich war dabei, eines seiner Opfer. Ich kann mich an nichts mehr erinnern. Ich will wissen was passiert ist."
"Thalia Queen... natürlich! Deswegen kommt mir dein Name so bekannt vor! "
Ich nickte. "Haben sie Akten? Informationen? Alles könnte wichtig sein, damit ich mich erinnere"
Er schüttelte den Kopf. "Ich bin nicht verantwortlich."
Ungeduldig klopfte ich mit meinen Fingernägel auf den Tisch. "Wer ist es dann?"
Er rufte einen Kollegen.
Angespannt starrte ich auf die Tür, die sich einige Minuten später langsam öffnete. Mein Atem stockte, als ich erkannte, wer es war. Vorsichtig ging ich einige Schritte zurück.
Er lächelte mich an, mit seinen weißen Zähnen die im Licht des Raumes glänzten. Ich starrte in seinen braunen Augen.
"Einen wunderschönen Guten morgen, meine Liebe"
Seine Stimme. Ich kannte sie, noch bevor ich auf der Lichtung auf gewacht bin. Ich kannte sie aus meinen Träumen. Er strich sanft über seine Halbglatze, und ich startet auf seine Sommersprossen und dem Flaum roter Haare auf seinen Kopf. Ich stellte mir vor, wie seine Brille zerbrach und sich die Splitter in seine Augen bohrten.
"Wie ich hörte, hast du einige Fragen? Wie praktisch, ich nämlich auch."
Ich starrte weiterhin in sein Gesicht. Versuchte mir zu sagen, dass das alles nicht real ist, dass dieser Mann in Wirklichkeit nicht existiert. Aber er tat es.
Ich drehte mich auf dem Absatz um und rannte.

Ich stoppte erst an der Bushaltestelle und setzte mich in irgendeinen Bus. Ich drehte mich tausendmal um, aber sie schienen mir nicht zu folgen. Wo konnte ich hin?
Ich fuhr mit der Buslinie bis zur Endstation. Dann wechselte der Bus seine Nummer und wir fuhren wieder zurück. Ich stieg in igendeinem Dorf aus. Meine Hände zitterten. Ich fühlte mich plötzlich so allein.
Nach jedem Meter sah ich mich um, ob mir jemand folgte. Aber da war niemand. Nachdenklich folgte ich den Straßen. Es fühlte sich richtig an, es war, als wäre ich mein Leben lang diesen Weg gegangen. An einer Ecke bog ich rechts ab, nahm dann eine Abkürzung durch den Hof eines anderen Hauses. Ich verließ mich auf meine Instinkte, lief weiter, immer schneller. Etwa hundert Meter weiter geradeaus war ein Auto. Unser Auto. Es war der Dienstwagen meines Vaters, ein schwarzer Mercedes. Er stand vor einer Doppelhaushälfte. Mein Blick war starr auf dieses Haus gerichtet, mein Herzschlag eskalierte. Ein warmes Gefühl breitete sich in meiner Magengrube aus, ich fühlte mich als könnte ich schweben. Als ich vor der Tür stand, zögerte ich. Was, wenn ich sie auch nicht wiedererkannte? Meine wahren Eltern?
Doch noch bevor ich die Klingel drücken konnte, wurde die Tür aufgerissen.

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