KAPITEL 6

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Alles, was ich sah, war orange. Mal wieder. Ich zog die Decke bis an mein Kinn und schlutzte. Ich erinnere mich, ganz genau, dass ich auf dem Boden eingeschlafen war. Das bedeutet nur eins, sie waren hier. Haben mich auf das Bett gelegt und was weiß ich sonst noch mit mir angestellt.

Ich riss meine Augen auf und hieß den Schmerz willkommen, welchen das grelle Weiß in meinen Augen auslöste. Ich fühle lieber diesen Schmerz als das ich überhaupt nichts spüre.
Ich verspüre keine Angst mehr.
Keine Hoffnung.
Keine Freude.
Nur Schmerz, Ekel und Trauer.
Ich spüre lieber Schmerz, als um die Vergangenheit zu heulen, denn das ändert nichts. Ich spüre lieber Schmerz, als mir Gedanken zu machen, wer sie sind und was sie mit uns machen werden, denn das zerstört mein Wunsch zu leben- wenn es diesen noch gibt.
Der Schmerz zeigt mir, dass ich noch existiere, zeigt mir wer ich bin.

Ich setzte mich auf und zog meine Beine an mich. Meine Hüfte schmerzte, mein Oberschenkel brannte, und ich genoss es.
Ich legte meinen Kopf auf meine Knie und dachte an nichts anderes als den Schmerz den ich verspürte. Das beste daran war, er betäubte alles andere, sodass ich nichts anderes spüren musste.
Ich fühlte plotzlich Wärme neben meiner Hüfte. Vorsichtig nahm ich die Decke von meinen Knien und betrachtete neugierig meine Beine.
Sie waren Blau, und Rot. Warmes Blut sickerte in die Matraze. Irgendeine Naht war aufgegangen. Ich strich vorsichtig über die Verletzungen. Jede kleinste Berührung brannte wie ein Feuer, und ich stöhnte leise. Früher hab ich nie verstanden, wie man sich ritzen konnte, sich selber Schmerzen zufügen um seine Probleme zu lösen. Jetzt verstand ich, das sie damit nur von ihren Problemen ablenkten, den Schmerz benutzen, um den Rest still zu legen.
Ich dachte plötzlich an meine Mutter. Vorsichtig streckte ich mein Bein zurück unter die Decke und schloss meine Augen. Ich sah ihr Gesicht vor mir, sah, wie sie ihre Hand auf meine Stirn legte, um zu prüfen, ob ich Fieber hatte. Ich wusste nicht, warum mein Unterbewusstsein diese Bilder abspielte. Aber sie halfen mir. Sie betäubten den betäubenden Schmerz.

"Alle Vögel sind schon da,
Alle Vögel, alle!"
So langsam verstand ich, wie man sich in einer Phychatrie fühlte. Alleingelassen, unverstanden.
"Welch ein Singen, Musizieren,"
Warum manche Anfangen zu singen.
Es ist das einzige, was sie an früher erinnert; ihre eigene Stimme oder der Text eines bestimmten Liedes.
"Pfeifen, Zwitschern, Tireliern!"
Meine Mutter hat mir das früher immer vorgesungen, als ich noch ein kleines Kind war, wenn ich nicht einschlafen konnte. Ich fühlte mich damals sicher, geborgen.
"Frühling will nun einmarschiern,"
Aber jetzt hallten die Töne nur an der Wand ab, klangen kalt und falsch, zerbrachen die Schönheit dieser Erinnerung.
"Kommt mit Sang und Schalle."

Der Frühling ist der Tod.

Das Zwitschern das Betteln ums Überleben.

Die Vögel sind wir.

Der Sang und Schalle des Frühlings ist der Vorbote des Todes, also dieser Raum.

"Alles Vögel sind schon da" wiederholte ich den Text. Wir sind alle hier. Der Tod will einmarschieren, in Form dieses Ortes.
Wir sind Vögel, die nichts tun können, außer um ihr Überleben betteln, durch unverständliches Gezwitscher. Gefangen in ihrer eigenen Angst erwarten sie scheiend den Tod, beziehungsweise den Frühling.

Dieser Raum trieb mich in den Wahnsinn.

Noch schlimmer als meine Umgebung war jedoch das fehlende Zeitgefühl. Keine Fenster, keine Uhr. Ich wusste nicht, ob es Nacht war oder Tag. Ob ich Stunden hier verbracht habe oder Tage.
Welcher Tag heute ist.
Und vor allen Dingen- wie lange es noch dauern wird.
Ich hab mich damit abgefunden, sogut wie Tod zu sein. Ich hätte noch so viel Zeit vor mir gehabt. Ich hatte so viel vor, auch wenn ich nie wirklich wusste, was ich mit meinem Leben anfangen wollte.
Es ist alles sinnlos. Meine Freunde sind tot. Natürlich nicht alle. Aber selbst wenn ich hier jemals wieder rauskäme, würde ich nie vergessen können. Wen ich verlor. Was ich verlor. Aber das ist alles unwichtig, da ich eh niemals hier rauskomme.

Also sitze ich hier, meine Erlösung erwartend. Nicht die Erlösung von den Schmerzen, sondern die Erlösung vom Leben. Meinem Leben.

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