KAPITEL 4

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"Alles ok bei dir? Du hast geschrien, im Schlaf "
"Was?" Verschlafen rieb ich meine Augen.
"Thalia, was ist passiert?"
"Keine Ahnung, hab meine Erinnerungen verloren"
"Ich weiß"
Zögernd sah ich meine Mutter an. Warum fragte sie dann?
"Was hast du geträumt?"
"Weiß ich nicht mehr"
"Versuch dich zu erinnern, bitte"
"Ich weiß es echt nicht mehr"
"Ok" sagte sie und ging. Ich war froh darüber.
In Wirklichkeit wusste ich genau, was ich geträumt hatte. Dieser Junge, der auch in der Akte stand. Ich hab von seiner Leiche geträumt. Sein Kopf, abgetrennt von seinem Körper. Ich zog meine Beine an mich und suchte den Zettel aus meinen Taschen. Jan Marcel Davids. Das war also sein Name. Was ist mit ihm passiert? Ist er wirklich... tot?
Ich ging zu meinem Schreibtisch und öffnete mein Notebook. Passwortgeschützt. Scheiße.
Ich fühlte mich wie ein Verbrecher als ich in meinen Schubkästen kramte. Nichts. Kein Handy. Mein Gott, jeder hat ein Smartphone, warum ich nicht?
Entgeistert gab ich auf.

Alles in meinem Zimmer war so unpersönlich. Kein Zeichen von Freunden. Und jetzt brauchte ich nichts als meine Freunde. Menschen, denen ich alles anvertrauen konnte, denen ich Vertrauen konnte.
Ich setzte mich an mein Notebook und versuchte unterschiedliche Passwörter aus. Natürlich stimmte keines von ihnen. Entgeistert sah ich mich im Zimmer um. Es war ein Samstagmorgen. Ich öffnete meinen Schrank, gespannt was ich alles finden würde. Es war nichts bekanntes dabei, aber trotzdem gefiel mir, was ich sah. Unterschiedliche Pullover, T- shirts, Tops, Kleider- ohne alles durcheinander zu bringen konnte ich mir vorstellen, wie schön sie wären. An ihr, meinem altem Ich. Ich zog mir eine Jogginghose und ein schwarzes Top aus dem Schrank und machte mich auf dem Weg nach unten um etwas zu essen.
Alles an diesem Haus hatte noch den Reiz des Neuen, und doch fühlte ich mich fremd als ich die Treppen runterlief. Ich gehörte hier nicht her, nicht in dieses Haus und nicht zu dieser Familie.
"Guten Morgen, mein Schatz. Ich wollte dich gerade zum essen holen" sagte mein Vater, der mir entgegen kam.
"Morgen" murmelte ich und setzte mich an den gedeckten Tisch. Zum Glück verschonten sie mich mit langweiligen Smalltalk und ließen mich in Ruhe essen. Es war, als hätte ich eine Ewigkeit keinen Geschmack mehr in meinem Mund gehabt, zumindest keinen so guten. Meine Zähne schmerzten, anscheinend hatte ich eine lange Zeit keine feste Nahrung mehr zu mir genommen. Also genoss ich das hier noch mehr.
"Du kannst mit uns reden, dass weißt du?" Sagte meine Mutter. Sie saßen da und starrten mich an. Ich nickte nur, da mein Mund zu voll war um zu sprechen.
"Kannst du dich an wirklich... gar nichts mehr erinnern?" Fragte mein Vater leise. Ich schüttelte den Kopf. Traurig wendete er seinen Blick ab.
"Wer waren meine Freunde, damals?"
"Thalia, ich glaube wir sollten dieses Thema... "
Ich schnitt meiner Mutter das Wort ab.
"Wer?" Sie starrte in meine Augen, ich in ihre.
"Ich könnte dir Namen nennen, Bilder zeigen, aber für dich werden dass alles nichts sein als Fremde. Wenn du dich nicht an uns erinnern kannst, warum sollte es bei ihnen anders sein?"
"Ich will sie sehen"
"Wieso?"
"Weil ich sie vermisse"
Sie sahen sich an. In ihren Augen sah ich Verzweiflung.
"Was ist daran falsch?" Fragte ich leise.
"Du... du verstehst das nicht"
"Dann erklärt es mir!"
Sie schüttelten sinkron ihre Köpfe.
"Warum nicht? Ich will doch nur wissen wer ich bin!"
"Du meinst wer du einmal warst. Doch das ist egal. Das einzige, das zählt, ist wer du sein möchtest."

"Ich möchte sie sein."

Meine Eltern sind ziemlich hastig vom Tisch verschwunden, ließen mir alle Arbeit mit abdecken. Es störte mich nicht, ich hatte ja eh nichts besseres zu tun. Nach einer Weile fand ich mich sogar relativ gut in unserer Küche zurecht. Durch das Fenster sah ich meinen Vater wegfahren, wohin auch immer er an diesem Sonntagmorgen hinwollte, und meine Mutter setzte sich an einen Laptop im Arbeitszimmer. Niemand würde mich also vermissen.
Ich hatte einen Entschluss gefasst- ich wollte herausfinden, wer ich einmal war. Vielleicht ist da jemand,wie eine Schwester für mich, die mir wichtiger war als meine Eltern. Ich hoffte es so sehr, denn bei ihnen fühlte ich nichts. Ich konnte Ihnen nicht vertrauen, denn Vertrauen muss man sich erst verdienen.
Und suchte ein paar Schuhe, die mir passten und zog mit eine der Jacken über. Auf einem Tisch lagen mehrere Schlüssel und ich packte mir einen ein.

Vorsichtig trat ich raus, in das Licht der roten Morgensonne. Die Fenster der Häuser um mich glänzten golden, irgendwo bellte ein Hund. Traurig bemerkte ich, dass ich nichts davon schon einmal gesehen, gehört oder gerochen hatte. Ich folgte einigen Straßen, bewunderte das Leben um mich. Leute grüßten mich, als sie vorbeigingen, und lächelten. Ich lächelte zurück, obwohl ich sie nicht kannte. In der Tasche meiner Hose war immernoch der Zettel aus der Akte.
"Guten Morgen" sagte ein ältere Herr, der gerade einen Spaziergang mit seinem Hund machte.
"Hallo" ich kramte den Zettel raus, "könnten sie mir vielleicht helfen?"
"Ich würde es gerne versuchen." Er lächelte.
Ich gab ihm die Seite.
"Kennen sie jemanden von diesen Bildern?"
"Lassen sie mich mal sehen." Er nahm eine Brille aus seiner Hemdtasche und sah sich jedes der kleinen Fotos gründlich an.
"Ja, dieser junge Mann, Davids, der stand doch in der Zeitung!"
"Wirklich? Entschuldigen sie, ich hab eine Weile keine Zeitung mehr gelesen, könnten sie-"
"Da stand doch, er wäre entführt worden. Und einige Tage später wurde seine Leiche vor dem Gymnasium gefunden, auf dass er ging. Wissen sie, dieses Gymnasium ist verflucht-", er senkte seine Stimme, "und die Geister wollen sich rächen."
"Rächen?"
"Jaa", flüsterte er geheimnisvoll, "früher war dort ein Gefängnis. Die Geister der gequälten Insassen sind noch immer dort - ich sage Ihnen, halten sie sich von dort fern, es ist ein gefährlicher Ort!"
"Vielen Dank, einen schönen Tag noch."
"Gleichfalls, und vergessen Sie nicht, was ich ihenen gesagt habe."
Ich nickte.
Er zwinkerte mir zu und scheuchte seinen Hund vorwärts.
Komische Leute hier. Aber wenigstens hatte ich einen Ansatz. Ich hatte seine Leiche gesehen, das heißt ich muss zu diesem Gymnasium gegangen sein. Ich musste herausfinden, wo es lag und wie ich dorthin komme.
Aber wie? Ich hatte kein Smartphone, mein Notebook konnte ich nicht benutzen, und meine Eltern fragen war auch keine Option.
Die nächste Person, die an mir vorbeiging, fragte ich, wo ich eine Bibliothek finden kann. Zu meinem Glück lag diese ganz in der Nähe. Ich versuchte mir den Namen meiner Straße zu merken und ging los. Auf die Suche nach mir selbst.

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