KAPITEL 21

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"Hey, kann ich dich was fragen?"
Es war etwas später, wir liefen noch immer am Zaun entlang. Um uns flüsterten sich die Baumkronen dunkle Geheimnisse zu. Der Wind streichelte über meine Haut, gab mir das Gefühl, nicht alleine zu sein.
"Klar"
"Was wollte er eigentlich von dir? Es muss was wichtiges gewesen sein, sonst hätte er mich nicht als Druckmittel mitgebracht"
"Jaaa... ich bin aus meinem Zimmer geflohen, und er wollte wissen woher ich den Code wusste."
"Und woher wusstest du ihn?"
Nicht schon wieder. Ich hasste diese Art der Fragen.

"Eine Ärztin hat Selbstgespräche geführt."
"Selbstgespräche?"
War ja klar. Er glaubte mir nicht. Niemand glaubte mir.
"Ja? Sie stand da und redete"
"Hast du ihren Mund gesehen?"
"Sam. Ich hab mir das nicht eingebildet. Der Code hat ja auch gestimmt."

Er schwieg kurz, musterte meinen Körper.
"Weißt du, was sie dort mit uns gemacht haben?"
"Nein"
"Was wenn du... Dinge hörst, die du nicht hören solltest weil du... Gedanken hören kannst?"
"Dein Erst? Gedanken lesen? Das hier ist kein scheiß Manga oder eine Supernaturalfolge, das hier ist die Realität!"
"Aber denk mal drüber nach, es würde alles erklären"
Das stimmte. Der Code, Sams Worte die nicht aus seinem Mund zu kommen schienen.
"Das ist doch lächerlich."
"Es ist wahr, oder nicht?"

Ich schwieg. Hatten sie getötet, nur weil sie... X-men schaffen wollten? Kinder mit "Superkräften"? War das überhaupt möglich?

"Keine Ahnung"
"Was denk ich gerade?"
"Woher soll ich das wissen?"
"Thalia, ich hab nichts gesagt."
"Hör auf damit."
"Woran denke ich jetzt?"
Seine großen Augen sahen mich erwartungsvoll an. Ich konzentrierte mich. Aber ich hörte nichts. Stille.
"Nichts?"
Er verzog seine Miene.
"Warum geht es jetzt nicht mehr?"
"Was weiß ich."
Ich hörte auf mich zu konzentrieren und ließ alles los, wie als würde ich fallen. Tief in die Dunkelheit. Ich wollte einen Moment Ruhe. Ich wollte, dass mein Schmerz endlich wieder schwieg.
Ich zuckte. Es begann wieder. Ich hörte Stimmen. Schreie.
Das war es nicht, was ich wollte.

Aber es war da. Tod. Ich sah alles- Licht, Dunkelheit. Wahrheit und Lüge.
Dann wieder nichts. Schmerzen und Emotionen benebelten meinen Geist.
"Thalia, was passiert gerade?"
"Bitte, mach dass es aufhört"
Ich zuckte zurück, in den Tod. Meine Seele wurde eins mit dem Licht. Frei von den Ketten meiner schwachen Hülle. Alles war möglich.
Ich schwitze. Wollte hier weg. Wollte, dass die Stimmen verstummten.
Sie riefen um Hilfe. Und dass ist alles meine Schuld.

Dann lebte ich wieder. Mein Herz pumpte langsamer. Mein Körper kühlte ab. Alles um mich wurde schneller. Die Zeit war nur noch eine Variable, die ich selbst bestimmen konnte. Eine Variable, die alles Leben auf der Erde bestimmte. Nur nicht meins.

Ich zuckte. Starb. Meine Seele war frei. Ich wollte nicht, dass alles um mich so schnell passierte. Ich wollte wieder in einen stabilen Zustand. Ich verließ meinen Körper. Stieg auf. Ich wurde zu einer Wolke am blauen Himmel. Ich wurde zur Sonne, zu den Baumkronen über uns. Ich sah auf Sam hinab.
Ich sah das Tor. Es war nicht weit entfernt von uns. Eigentlich müsste das Loch...

Schmerzen. Leben. Ich fiel zurück in meine menschliche Hülle.
"Sam?"
"Was passiert gerade? Bist du ok?"
"Bitte, schlag mich k.o."Stöhnte ich. Ich konnte nicht mehr, wurde zerissen zwischen zwei Welten.
"Bitte..."
"Was? Nein!"

Ich zuckte hin und her, zwischen Leben und Tod. Als balancierte ich auf einem Stahlseil, das die Grenze darstellete, und war kurz davor zu fallen.
Blut tropfte aus meinem Mund. Meine Hülle löste sich von innen auf. Meine Seele wurde fremd.
"Bitte" flüsterte ich, aber kein Ton verließ meinen trockenen Mund.

Dann wurde alles schwarz. Schonwieder. Als ich meine Augen wieder öffnete, saß Sam neben mir. "Thalia? Geht's dir gut?"
Ich sah ihn an, zögernd ob er die Frage wirklich ernst meinte.
"Ja, natürlich. Wie könnte es mir auch schlecht gehen?" fragte ich sarkastisch. Er starrte mich mit seinen schwarzen Augen an. "Komm, wir müssen weiter."
Murmelte ich und rappelte mich auf. Sam stand ebenfalls auf und wir gingen los, in irgendeine Richtung.
Wir liefen eine Weile, Stille abgesehen von Sams Gedanken, die ich mittlerweile ignorierte.
"Was ist da grad passiert?" Fragte er nach einer Weile.
"Weiß nicht." Ich wollte nicht darüber reden. Also redeten wir nicht.
Etwas später erreichten wir das Tor.

Es war größer, als ich es in meinen Erinnerungen sah. Einige Meter hoch sowie einige Meter breit trohnte das Tor vor uns.
"Scheiß also auf das Loch, wir gehen hier raus" sagte Sam. Vielleicht dachte er es auch nur.
"Aber wie?" Fragte ich.
Vor dem Tor standen zwei Wachen, ein dritter saß in einem Glaskasten, in dem die Elektronik untergebracht war.
"Sehe und lerne"
Er lehnte sich an einen Baumstamm und deutete mir, mich zu verstecken. Dann nahm er zwei Finger in den Mund und pfiff. Die beiden Wachen sahen sich an.
"Was war das?"
"Ich geh mal nachsehen, halt du den Pfosten"
"Roger"

Eine der Wachen kam langsam auf uns zu. Jeder Schritt schnürte meinen Hals zu, doch Sam schien sich sicher zu sein. Er kam näher. Immer näher. Ich versuchte nicht zu atmen, um leiser zu sein. Und dann war er da. Sam machte nichts, stand da und sah mich an. MICH. Was sollte ICH bitte machen?
"Mach schon, schalt ihn aus! So wie den Typen bevor wir geflohen sind! " hmm... ist klar. Ich glaubte nicht, dass ich das schaffen würde.
Ich schüttelte überdeutlich meinen Kopf.
Die Wache kam immer näher und ich wusste immer sicherer, dass ich es nicht konnte. Einen Mann verprügeln, in dem sich mein Hass bündelt, ist eine Sache, aber eine Wache die nichts damit zutun hat bewusstlos zu schlagen ist eine ganz andere Liga. Angesehen davon fühlte ich mich zu schwach. Falsch. Ich war zu schwach. Was hat sich Sam dabei gedacht? Er hätte mich wenigstens Fragen können.
Soll er seine blöde Wache doch selbst verprügeln. Ich kroch weiter hinter den Baum, hinter dem ich mich versteckte.
"Vielleicht nur ein Vogel" sagte die Wache.
Ich musste mich zurückhalten um nicht erleichtert aufzuatmen. Ein Glück.
Nach einer Weile, um sicherzugehen dass die Wache wirklich weg war, kam Sam auf mich zu. "Was ist los? Warum ... ? Wir hätten fliehen können!"
Ich starrte ihn an. In seine großen schwarzen Augen.
"Ich will niemanden mehr verletzten, der es nicht verdient."
"Aber wir wären frei"
Ich vergrub meinen Kopf in meinen Knien.
"Und er verdient es nicht, wenn ich ihm wehtun würde, wäre ich nicht besser als SIE"
"Du tust es aus Selbstverteidigung, nicht aus Spaß"
"Ich..." mir fehlten die Worte. An Liebsten wollte ich meine Augen schließen, fallen, aber ich wusste, was dann passierte.
Es ist alles zerstört. Alles, was ich jemals hatte.
Sie hatten es mir genommen. Sie müssen büßen, jeder einzelne von ihnen. Aber wieweit gehört die Wache zu IHM?

Ich wollte nichts tun, dass ich später bereuen werde. Ich wollte kein schlechtes Gewissen mehr haben, keine Albträume, die meine Nächte heimsuchen.

Sie gehörten zu ihm, jeder einzelne von ihnen. Und sie mussten zahlen.
"Ich kann nicht" sagte ich. Ich war zu schwach, zu müde.
"Tut mir leid, war ne blöde Idee."
Ich nickte.
"Ich wusste nicht, dass du so ein Angsthase bist" sagte er ablehnend.
"ICH? Du hättest ihn genausogut verprügeln können! "
"Das war deine Aufgabe! Ich dachte wir wären ein Team."
"Wir sind ein Team." Flüsterte ich.
Er nahm meine Hand. Ich zuckte zurück, aus Angst, ihm wehzutun. Er hielt ihn weiter fest und zog mich an ihn. Dann legte er seine Arme um mich. Ich legte meinen Kopf auf seine Schulter. "Es tut mir leid" wisperte er im mein Ohr.
"Mir auch."

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