KAPITEL 22

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Sie packte ihr Zeug zusammen.
Sie unterdrückte die Tränen. Sie hatte wieder Dinge getan, schreckliche Dinge.

Früher hatte sie als Krankenschwester in einer kleinen Stadt gearbeitet. Anderen Menschen helfen, für sie da sein, dass alles machte sie glücklich. Sie hatte geheiratet. Wurde schwanger. Sie war glücklich, als lebte sie ihren Traum.
Als die Venen einsetzten, konnte sie ihr Glück kaum fassen. Sie würde ein Kind in die Welt setzen, eine Familie gründen.

Sie lag im Krankenhaus. Er hielt ihre Hand. Alle Schmerzen nahm sie still in Kauf, sie wollte nur ihren Sohn sehen.

Als sie dann das rote, schreiende Ding in den Armen hielt, war alles vergessen. Sie war glücklich, wirklich, es schien alles so perfekt.

Doch das war es nicht. Das war es nie.

Erst machte es kaum einen Unterschied, aber um so älter er wurde, umso mehr leidete er unter seiner Behinderung. Ihr Mann verließ sie. Er schlief mit einer- oder mehreren anderen, und als er sah, was sie gezeugt hatten, schämte er sich für seinen behinderten Sohn. Er ging einfach, ohne ein Wort.
Sie wusste nicht, dass sie so ein Arschloch geheiratet hatte.

Sie liebte ihren Sohn über alles. Aber die Pflege wurde neben ihrer Arbeit immer schwieriger. Ihr fehlte Geld, aber auch die Zeit, Überstunden zu machen.

Dann wurde das Krankenhaus geschlossen, ein Neues wurde in einer anderen Stadt eröffnet. Sie bekam dort keine Stelle. Müde und erschöpft wie sie war, lehnten sie sie ab. Jetzt hatte sie gar nichts mehr.

Und dann hörte sie von einer Operation, die die Behinderung ihres Sohnes heilen könnte. Er würde laufen können, mit den anderen Kindern spielen. Sie konnte ihr Glück kaum fassen- ihr Sohn könnte ein normales Leben führen.
Aber natürlich gab es auch ein Nachteil. Es war teuer, und das Geld, das sie vom Staat erhielt, reichte nicht aus. Die Krankenkasse weigerte sich ebenfalls zu zahlen.
Sie brauchte Geld, Geld, dass sie nicht hatte.

Ihr Bruder kam vorbei. Er arbeitete für die Regierung, aber was genau er tat war geheim.
Sie tranken einige Biere, redeten, wie in alten Zeiten.
Lachten.
Und sie erzählte ihm alles. Jedes Einzelne ihrer Probleme, und er hörte aufmerksam zu. Seine sanften Augen musterten traurig die Ihren, seine Hand strich liebevoll über ihren Arm.
"Danke, dass du da bist" flüsterte sie.
"Ich weiß, wie ich dir helfen kann." Sagte er leise, bevor sie auf ihrem Sofa einschlief. Er deckte sie vorsichtig zu, legte eine Karte auf den Tisch und ging leise. Als die Tür ins Schloss fiel, hob sie kurz ihren Kopf, schlief aber schnell wieder ein.

Das Geräusch hoher Damenabsätze schallte durch den Flur, als sie den Raum verließ. Sie verwischte schnell ihre Tränen. Make-up benutzte sich schon lange keins mehr, welches verschmieren könnte. Sie schob ihre Karte durch den Schlitz und die Tür öffnete sich. Draußen der Wald. Sie lief ein wenig um den Block, zu einer Tiefgarage, in der Mitarbeiter ihre Autos parkten.
Schnell ging sie zu ihrem Auto, öffnete die Tür und stieg ein. Sie zog ihre Schuhe aus, denn mit High-Heels ließen sich die Pedale schlecht bedienen. Dann fuhr sie los. Mit Gedanken war sie bei ihrem Sohn, vesuchte alles zu vergessen. Die Verbrechen, die sie täglich begeht, im Namen der Regierung. Sie sind es, die die Versuche veranlassen.
Ihr Bruder hatte ihr diesen Job verschafft. Er sagte, sie bräuchten Mediziner wie sie. Sie würde gut bezahlt werden. Er sagte nicht wofür. Warum. Zu welchem Preis.
Sie hatte ihn danach nie wieder gesehen.

Sie hatten ihn in der Hand. Hörte sie auf oder erzählte irgendjemanden von diesem Projekt, stoppte die medizinische Versorgung ihres Sohnes, und seine Behinderung könnte sich verschlimmern. Im schlimmsten Fall führte es zum Tod. Sie hatte naiv zugestimmt und damit zugelassen, dass sie ihren Sohn als Geisel nehmen. Sie konnte sein Leben nicht gefährden, dafür liebte sie ihn zu sehr.
Aber die Leben, die täglich ihretwegen zerstört werden, kann sie niemals vergessen. Sie jagten sie durch ihre Träume, nagten an ihrem Gewissen. Und es war ihr gutes Recht. Es war falsch was sie tat.
Aber was sollte sie tun? Zur Polizei konnte sie nicht, denn erstens bringt sie damit sich und ihrem Sohn in Gefahr, zweitens kann die Polizei nichts gegen die Regierung unternehmen.

Was war ihr Bruder für ein Mensch? Es kam ihr vor, als hätte sie ihn nie gekannt. Wie könnte er unschuldigen Kindern soetwas schreckliches antun? Vielleicht hatte er auch keine Wahl, so wie sie. Aber ihr viel kein Erpressungsmittel ein, dass man gegen ihn verwenden könnte. Sie war so tief gesunken, dass sie selbst ihren eigenen Bruder nicht mehr kannte. Ihr Leben ging den Bach runter, aber alle Bemühungen, es wieder in den Griff zu bekommen, waren vergeblich. Sie konnte nicht aufhören, nicht, wenn sie ihren Sohn retten wollte. Aber sie musste der Wahrheit ins Auge blicken- sie tötete täglich für dieses Ziel. War das gerecht? Nein, es war falsch. Sie würde sich gerne einreden, sie hätte keine Wahl gehabt, aber die hatte sie. Als sie ihr die Bedingungen vorlegten, hätte sie stutzig werden müssen. Sie hätte "Nein" sagen sollen.

"Warum?" Flüsterte sie leise, als sie den Motor ihres Autos startete, "Warum hab ich nicht nein gesagt?" Diese Frage zerstörte sie innerlich. Sie schmerzte in ihrem Gewissen, riss an ihrem Herzen. Langsam fuhr sie durch das kleine Waldstück auf einer unebenen Straße in Richtung Tor.

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