KAPITEL 20

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Konnte das Real sein? Es war mir egal. Grinsend betrachtete ich das Loch in Zaun. Jetzt könnte ich nach hause gehen! Ich jubelierte innerlich, als ich mich bückte und durch das viel zu kleine Loch kletterte. Metall stach in meine Rippen, riss in den Stoff meines Pullovers.
Hatte ich es wirklich geschafft?

"Shit!" Rief Sam und trat gegen den Metallpfosten.
Wir hatten den Zaun erreicht. Es war wie in meinem Erinnerungen, löste die selben Gefühle in mir aus.
Erschöpft sank er zusammen und setzte sich auf den Boden. Ich wollte seine Schulter streichen, aber zum Glück konnte ich meine Hand noch rechtzeitig zurückziehen.
"Hey, alles wird gut." sagte ich leise.
"Thalia, du kannst nicht lügen."
Ich seufzte und ließ mich neben ihn ins feuchte Gras fallen.
"Es gibt einen Weg hier raus. Ein Loch in Zaun."
"Was!? Wieso hast du das nicht früher gesagt?"
"Es... Es tut mir leid, ich..."
"Wo?"
"Ich weiß es nicht... Als ich hier ankam, versuchte ich zu fliehen, und dann war da dieses Loch."

Ich richtete mich langsam auf. Sah mich um. Vor mir lag ein großer Stein, mit Moos überwachsen wie ein geheimnisvolles Gemälde. Ich ging hin und las die Inschrift, die in den Stein gemeißelt wurde.

" EIN OPFER IN NAMEN DER WISSENSCHAFT IST EINE EHRE.
FOLGENDE SUBJEKTE HABEN SICH DIESE EHRE VERDIENT:"

Danach folgten mehrere Namen. Zu viele Namen. Meine Augen wurden feucht, ich wollte nicht weinen, aber ich tat es trotzdem.
Die Namen ummantelten den ganzen Stein, es waren mehr als Platz da war. Und es gab viel Platz.

"Bitte, nicht weinen."
Ich wischte mit meiner Hand die Tränen weg.
"Sorry"
Er sah mich mit seinen schwarzen Augen an.
"Was... was genau ist passiert?"
Ich kniff meine Augen zusammen und schüttelte meinen Kopf.
"Thalia, bitte, ich muss es wissen!"
"Das willst du nicht. Lass uns einfach einen anderen Weg suchen, bitte!"
"Hör auf zu jammern und rede einfach!"
Ich starrte ihn an. Ich hatte schwören können, dass sich seine Lippen gerade nicht bewegt hatten. Ich tat es schonwieder. Ich halluzinierte, drehte durch.
"Bitte" flüsterte er.

Ich wendete meinen Blick von dem Stein ab. Ich wollte weiterlaufen, einfach weg rennen von allem. Beinahe wäre ich in die Grube vor mir gefallen. Es war ein großes, quadratisches Loch hinter dem Stein.
Mein Atem stockte. Meine Augen starrten in ihre, doch es waren zu viele Augen. Zu viele Körper. Zu viele Leichen.
Ich wollte wegsehen. Ich wollte mich hinter einem Baum verstecken, wie ein kleines Kind.
Aber ich konnte mich nicht bewegen. Alles war wie versteinert.

"Warum?" Flüsterte ich, immer und immer wieder. In Namen der "Wissenschaft"? Das gibt ihnen noch immer kein Recht über unser Leben. Kein Recht uns zu töten.

Er schluckte.
"Gibt es einen anderen Weg?"
"Nur durch das Tor, aber da kommen wir niemals ungesehen raus."
Ich zog meine Knie an und legte mein Kopf in meine Arme.
"Was sollen wir jetzt machen?" Fragte er leise.
"Ich weiß es nicht."
"Erzähl weiter"
Mein Kopf lag noch immer in meinen Armen. Ich drückte meine Augenlider zusammen und begann leise zu reden.

Ich lies mich auf den Boden fallen. Meine Beine waren wie Wackelpudding, meine Augen waren dem Anblick der Leichen nicht gewachsen.
Und so lag ich da, weinend. Minuten? Stunden? Ich weiß es nicht mehr.
Aber dann hörte ich Schritte. Sie waren hinter mir, unterhielten sich. Lachten.
Sie waren Mörder. Mörder in Namen einer verkorksten Ideologie. Ich nahm mich zusammen und rannte weiter. Jeder Schritt schmerzte. Zu jedem Atemzug musste ich mich zwingen. Tränen liefen wie Bäche. Ich rannte weiter, sah mich nicht um. Und plötzlich waren sie da.

"Wir brauchen einen Plan." Seine Stimme klang sicher, als ließe ihn das alles kalt.
Ich nickte, ohne meinen Kopf zu heben.
"Vielleicht ist das Loch ja schon repariert?"
"Wir müssen es versuchen, es könnte der einzige Weg sein"
"Ok"
Nein. Ich wollte nicht zurück. Ich wollte diese tausenden Augen nicht sehen, ihren Tod riechen.
"Aus welcher Richtung kamst du?"
Ich versuchte mich zu erinnern, aber sofort tauchte Mariés Gesicht auf. Dann Jan, und ER. Ich begann zu zittern. Ich erinnerte mich an Nadeln, Schmerzen, Tränen, aber nicht an die Richtung, aus der ich gekommen war.
"Sorry."
Er seufzte. "Dann gehen wir einfach den Zaun entlang, bis wir es finden."
"Ok"

Die Sonne kitzelte auf meiner Haut. Es war so lange her, dass ich die Sonne das letzte Mal gesehen hatte. Die Bäume rauschten leise im Wind, kleine Wolken wie aus Watte schwammen über der Himmel. Die Farben, das Licht. Ich zog alles in mich, genoss die Freiheit.
Mein Oberschenkel tat immernoch weh, und ich fragte mich langsam, wielange es dauern wird, bis er geheilt ist. Jeder einzelne Schritt brannte wie Feuer auf meiner brennenden Haut.
Heimlich sah ich zu Sam, bewunderte seine schwarzen Haare, sein perfektes Gesicht. Wie er da neben mir lief, mit sich selbst redete als wäre ich nicht hier. So fühlte ich mich auch.
Er flüsterte, so wie als befürchtete er, dass ihm jemand hören konnte.
"Thalia hat schon nen' geilen Arsch"
Ich schwieg. Ich wollte nicht, dass er mich nochmehr hasste.
"Aber eindeutig zu kleine Titten"
Ich ignorierte ihn. Versuchte es zumindest. Ich hatte schon so viel Erniedrigung über mich ergehen lassen, da würde ich das hier auch noch schaffen.
Auch wenn es mich agressiv machte.
Ich musste ohnehin lernen, meine Gefühle zu verstecken.
"Wär schon geil sie zu flach zu legen"
Jetzt reichte es.
Ich blieb stehen und sah ihn an.
"Was ist?" Fragte er und drehte sich zu mir um.
"Da fragst du noch?"
"What is your fucking problem?"
"Lebe deine preserve Phantasien bitte in deinen Gedanken aus. Ist das so schwer?"
"Was?"
"Hallo!? Ich will nicht von dir wissen wie du meine Brüste findest, ganz ehrlich"
"Thalia? Was läuft falsch bei dir? Ich hab nichts getan?"
"Halt einfach dein Maul, okay?"
"Schon süß wie sie sich aufregt"
Schonwieder. Er hat seine Lippen nicht bewegt.
"Willst du mich verarschen?"
Fühlte er sich cool, wenn er mit Bauchrednerei meinen Verstand raubte?
"Was geht falsch mit ihr?"
"Das. Ist. Nicht. Lustig."
"Thalia? Ich hab nichts gesagt?"
"Nein!" Ich begann zu weinen. Ich wurde wahnsinnig. Aber was noch schlimmer war- er wusste es. Trotz allem, was er sagt, macht mich seine Anwesenheit noch immer glücklich, das einzige was mich menschlich bleiben lässt. Er bringt mich dazu, keinen Schmerz zu vergessen und meine Rache zu verschieben. Er hält mich am Leben.
Ich wollte nicht, dass er mich hasste.

"Sorry." Murmelte ich.
Er sah mich an. Mit seinen schwarzen Augen, wie ein Ozean bei Nacht. Eine glänzende Reflektion des Mondes auf dem stillen Wasser.
"Was ist los mit dir?"
"Ich... ich weiß es nicht. Es tut mir leid, ich wollte nicht-"
"Hey. Wir kriegen das hin. Wir beide. Glaub mir, wir kommen wir raus, in die Freiheit. Zusammen."
Ich lächelte.

Alles in mir hoffte so sehr, dass er die Wahrheit sagte.

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