KAPITEL 2

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Es ist schwer, Gefühle zu beschreiben, die ich nicht mehr fühle. Es sind alles Erinnerungen, wie an eine andere Person. Denn ich bin tot. Mein altes ich, diejenige, die ich einmal war. Vergraben unter Tonnen von Schmerz und Trauer.

Aber ich will es trotzdem tun. Ich will mein Leben aufschreiben, damit ich es beenden kann. Und damit ich niemals vergessen werde.

Es war also Mittwoch. Zwei Tage später.
Jan war immer noch nicht da.

Wir hatten gerade Mathe. Es war mit einigen Ausnahmen das Fach, dass ich wirklich verstand, und das obwohl ich neben Julie saß (wenn wir nebeneinander sitzen ist es fast unmöglich,sich zu konzentrieren).
In Mathe hatte ich nie schlechtere Noten als eine 2-, dass liegt wahrscheinlich daran, dass man nur verstehen muss und kaum Auswendig lernen. Das ist nämlich keine meiner Stärken.

"Lia?" So nannte Julie mich immer.
"Ja?" Antwortete ich.
"Sprech ihn mal an!" Sagte sie und grinste.
"Nein... Was könnte ich denn sagen, ohne das es dumm klingt?"
"Was weiß ich, 'Hi' oder so? So schwer kann das doch nicht sein! Montag habt ihr es doch auf hinbekommen." Natürlich hab ich ihr alles über unser Gespräch erzählt.
"Hi" sagte ich zu Julie. Ich zog das Wort lang und hielt meinen linken Arm hoch, so als würde ich eine Handtasche halten. Ich gab mir die größtmögliche Mühe bitschig zu klingen.
"Hast du heute Nacht schon was vor?" Ergänzte ich, warf meine schwarzen Haare zurück und küsste in die Luft.
Anscheinend sah es noch dümmer aus als ich dachte, und Julie bekam einen Lachkrampf.
Wir ernteten einen ernsten Blick von unserem Mathelehrer und den Kommentar "Thalia und Julie, erste Ermahnung". 'Erste Ermahnungen' sind unsere Spezialität.
"Ja, machs genau so" flüsterte Julie, als sie sich wieder beruhigt hatte. Ihre Wangen waren rot vom Lachen.
"Frag ihn, ob er dir irgendwas erklären kann oder so." schlug sie vor. Jetzt war Julie wieder komplett ernst und bei der Sache.
"Aber es gibt nichts, was ich im Moment nicht verstehe" murmelte ich.
Julie rollte mit den Augen. "Lia, du musst nicht immer zu Hundert Prozent ehrlich sein! Wenn es darum geht, ein gutes Gespräch anzufangen, geht das klar"
"Ich bin eine miserable Lügnerin, das weißt du doch!" Warf ich ein.
Ich war wirklich die schlechteste Lügnerin, die man sich vorstellen konnte.
Julie fing an zu lachen. Ich stimmte mit ein. Ich musste an den Tag denken, als ich meine Mutter davon überzeugen wollte, dass ich auf so einer Party nichts getrunken hatte. Das war vor etwa einem Jahr und Julie war auch da.
"Wir ha-ben nichts getrunk-en..." stotterte ich und wurde rot. In dem Moment waren wir schon längst wieder nüchtern. Meine Mutter lachte nur, aber verbot mir in Zukunft solche Partys.

Julie wollte mir dann Lügen beibringen. Doch selbst wenn ich sie wegen etwas so Unwichtigem wie dem Wetter belog, merkte man es. Der Versuch war zwecklos, und Lügen kann ich bis heute noch nicht.

Die zweite Ermahnung hatten wir gar nicht mitbekommen, und so verließen wir den Klassenraum mit einer saftigen Strafarbeit.

Es war Donnerstag. Unsere Chemielehrerin las die Klassenliste vor um die Anwesenheiten zu kontrollieren.

"Jan?"
"Immernoch nicht da" sagte jemand.
Hoffentlich geht es ihm gut...
"Sam?"
"Auch nicht da"
Was?
Sam ist krank? Es machte mich sehr traurig, insbesondere weil ich mir vorgenommen habe, ihn heute anzusprechen. Ich spürte etwas wie einen Stich in mein Herz.
"Stéphanie?"
Irgendwo meldete sie sich.
Es war mir egal. Sam war nicht da.
"Julie?"
Neben mir streckte sie den Arm in die Höhe.
"Thalia?"
Ich meldete mich.
Ab jetzt musste ich nicht mehr zuhören.
"Hey, jetzt hast du einen guten Grund, ihn anzuschreiben!" Julie's Begeisterung steckte mich nicht an.
Ich hatte mich nie getraut, ihm 'Hi' oder sowas in der Art zu schreiben. Ich hatte zuviel Angst, dass er mich ignorierte. Ich wollte es mir nicht einmal vorstellen, wie es wäre, keine Antwort zu bekommen obwohl Sam es gelesen hatte.

"Und was, wenn er wirklich krank ist?" Zweifelte ich.
"Ja und? Wenn er krank ist hat er umso mehr Zeit mir dir zu schreiben."

Also ging ich in der Pause heimlich an mein Handy und schrieb Sam.
"Hey :), wie gehst dir? Alles ok?"
Dann schickte ich mit klopfendem Herzen ab.
Er antwortete nicht. Er empfing die Nachricht nicht einmal.

Und er wird nie mehr die Chance haben, zu antworten...

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