Die Menge ist groß, aber der Menschen sind wenige. - Part 2

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„Was? Wohin?" Wie giftiger Nebel breitete sich Panik in ihrem Körper aus und bevor einer der beiden antworten konnte, ließ sie das Essen zu Boden fallen und rannte in die Dunkelheit.
Zwar hatte sie keine Taschenlampe, aber inzwischen kannte sie den Weg zu Firas Zelle und die Schreie der Rothaarigen waren ihr Wegweiser genug.
Kurz darauf leuchtete der Gang von einer wackelnden Taschenlampe erhellt. Das Licht drang aus Firas Zelle.
Ihre Rufe waren inzwischen in leises Wimmern übergegangen. Immer dasselbe Wort: „Nein. Nein. Nein."
Seraja stürzte zu der sperrangelweit geöffneten Gittertür und erkannte dahinter eine Szene, die dafür sorgte, dass sich alles in ihr schmerzhaft zusammenzog.
Fira wurde bäuchlings gegen die graue Erdwand gepresst. Ihre Augen geisterten wirr über die offene Gittertür und kalte, nackte Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben. Feuchte Spuren wanden sich in kleinen Bächen über ihre hübschen Züge. Ihr kleiner, roter Mund öffnete sich immer wieder um dieses Wort zu hauchen, das ihr ganzer Körper herauszuschreien schien: „Nein!"
Hinter der Rothaarigen stand ein starker, großer Mann, dessen Gesicht die Züge eines Gottes besaß, aber im Moment doch eher an den Teufel erinnerte. Quo.
Seine großen Hände an deren Berührungen sich Seraja selbst noch mit einem Schaudern erinnern konnte, glitten wie Ungeziefer über Firas Körper und unter die Kleiderfetzen, die sie trug.
Die Soldatenkleidung von gestern lag schön gefaltet neben der Tür auf einem waschbereiten Haufen.
Wieso hatte das Mädchen sie nur jetzt schon ausgezogen?!
Seraja konnte sich die Frage selbst beantworten. Es war ihre Schuld, ihre ganz allein. Weil sie nicht heute morgen mit Fira gesprochen hatte, hatte diese ihr wohl den Zwang dazu nehmen wollen indem sie alles für Seraja fertig zum mitnehmen vorbereitete.
Das hier war zum Teil ihre Schuld...
Der Soldat wisperte Fira ganz auf sie konzentriert etwas in Ohr, dass sie vor Angst aufschluchzen ließ.
Seraja konnte es vage verstehen: „...können wir endlich mal unseren Spaß haben, wo der Herr Kommandant jemand Neues gefunden hat, was? Weißt du, ich hab mich schon auf dich gefreut, als sie euch hier abgeladen haben, aber dann hat Theo dich mir weggenommen. Na ja. Wies aussieht, interessierst du ihn jetzt nicht mehr. Dann können wir uns bei unseren kleinen Treffen endlich richtig austoben. Schön, nicht wahr? Freust du dich genauso, wie ich mich? Wir werden..."
Weiter kam Quo nicht, denn Seraja war mit all der Geschwindigkeit, die man bei einem Lauf von drei Metern sammeln konnte, gegen ihn gekracht und hatte ihn von Fira weggestoßen.
Zusammen fielen sie auf den harten Boden und die Taschenlampe schaltete sich bei dem Aufprall unwiederbringlich aus.
Tiefste Finsternis umgab sie und verschluckte Quos zornentbrannte Fratze.
Seraja lag auf seinem Bauch, noch leicht benommen von dem Sturz und wollte aufstehen, aber stattdessen hatte sie eine Art De ja-vu.
Der Soldat wälzte sich nämlich blitzschnell herum und begrub sie unter seinem Körper. Er presste ihr mit seinem Gewicht die Luft aus den Lungen und nagelte ihre Hände mit seinen Pranken auf dem Boden fest.
Seraja fühlte, wie heißer Atem gegen ihre Lippen schlug, als er wisperte: „Mhm... Das kennen wir doch schon, meine Süße, nicht? Ich wusste doch, dass wir uns wiedersehen. Unser sanfter Herr Kommandant reicht dir wohl nicht, was? Von der Sorte hattest du bei dir Zuhause schon genug."
Das Monster lachte dreckig.
Voller Wut und Angst wand sich Seraja so gut sie konnte unter ihm, aber sein Gewicht drückte ihr die Luft zu sehr ab und ihre Widerstandsversuche erlahmten schnell. Das Einzige was ihr noch einfiel, war eine mehr von Trotz als von Wut geleitete Tat. Sie riss den Kopf nach oben und schlug mit ihrer Stirn hart gegen Quos.
Er stöhnte schmerzerfüllt auf, aber im Gegensatz zu Seraja, die sich sofort benommen fühlte, machte es ihm wohl eher wenig aus. Keinen Wimpernschlag nachdem sie zurück auf den Boden gesunken war und rasselnd Atem holte, war Quos Gesicht auch wieder vor ihrem. Das wusste sie, auch wenn sie ihn nicht sehen konnte.
Er lachte leise auf.
„Hab ichs mir doch gedacht! Du willst einen richtigen Mann, nicht?"
Der kalte Boden unter ihr, jagte ihr einen Schauer durch ihren zum bersten angespannten Körper. Quo interpretierte ihn falsch, dachte wohl es sei Angst oder Lust, eine Reaktion auf seine Worte. Denn auch wenn Seraja seine Augen in der Dunkelheit nicht sehen konnte, erschien in ihren Gedanken das Bild von einem dunklen, dämonenhaften Blick, der Dinge versprach, die kein Tanz der Welt wieder gutmachen konnte.
„Na, dann will ich ihn dir doch nicht mehr vorenthalten!" flüsterte er rau mit von Freude und Lust angefüllter Stimme.
Wie in Zeitlupe löste sich Quos Rechte von ihren Handgelenken und kroch ihren Körper hinab. Genüsslich glitten seine Finger über ihre Körperwölbungen bis sie auf Hüfthöhe stoppten.
Seraja wollte schreien, als sich die Hand zur Seite bewegte und in dem harten Hosenstoff zwischen ihren Beinen vergrub, aber das einzige, was ihrem schmerzenden Brustkorb entwich, war ein jämmerliches Wimmern.
Für einen kurzen Moment blitzte beinahe so etwas wie Dankbarkeit auf – auch wenn man dieses Gefühl in so einer Situation kaum als ein solches bezeichnen konnte. Sie war dankbar für die unförmige, schwere Männerkleidung, die es schaffte sie vor mehr zu beschützen, als jedes andere Kleidungsstück es jemals gekonnt hätte. Auch wenn Quo seine Hand zwischen ihre Beine drückte, so lagen doch noch zwei feste Stoffschichten zwischen ihrer und seiner Haut.
Sie drängte die Tränen, die nach und nach wegen den Berührungen seiner Hände auf ihrem Körper in ihr aufstiegen, so gut sie konnte zurück. Er wollte, dass sie weinte, dass sie zu einem der anderen Mädchen wurde, aber sie würde das nicht tun. Sie würde nicht das verlieren, was ihr erlaubte zu lieben und zu hassen und zu kämpfen.
Egal, was geschah, sie würde keine Schwäche zeigen. Diese Genugtuung würde sie ihm nicht gönnen.
Doch dann presste Quo seinen Mund auf Serajas und zwang seine Zunge in ihre Mundhöhle.
Da sie sich ganz darauf konzentrieren musste zumindest noch ein wenig Luft in ihre Lungen pumpen zu können, konnte sie nichts dagegen tun.
Sie fühlte sich hilflos, wehrlos und einfach nur erbärmlich. Zwar tat auch ihr Körper weh, aber was mehr unter der Situation litt, war ihre Seele. Dieses Gefühl von Einsamkeit und Qual, das tief in ihr pulsierte und mit jeder Berührung, jeder Sekunde, die verstrich, schlimmer wurde.
Sie würde so gern um Hilfe rufen, aber sie konnte nicht. Fira war wohl auch nicht imstande dazu etwas zu tun. Vermutlich war sie geflüchtet, soweit sie gekonnt hatte, als das Licht ausgegangen war. Seraja konnte es verstehen, war vielleicht sogar ein wenig glücklich darüber. Wenigstens würde ihr nichts passieren.
Angst und Schmerz betäubten immer mehr Glieder ihres Körpers und lähmten sie. Wäre ihre Welt nicht sowieso in Finsternis getaucht gewesen, dann hätte tiefste Schwärze ihren Blick spätestens jetzt verschleiert.
Sie flüchtete sich in sich selbst um der Wirklichkeit zu entkommen, um Quos Hände und Lippen nicht mehr fühlen zu müssen und um nicht mitzubekommen, dass Quo an den Knöpfen ihrer Hose riss um den Stoff von ihren Beinen zu entfernen. Sie vergrub sich in der hintersten Ecke ihres Verstands, wo Kinderlieder von der Sonne und dem Mond sangen, wo Väter Geschichten von fernen Welten erzählten in denen das Gute immer gewann und wo sie als kleines Kind unter einem Elfenbeinmobile lag und den weißen Vögeln und Wolken, die über ihre blaue Zimmerdecke huschten, mit dem Auge folgte.
Ihre Traumwelt zersplitterte plötzlich in tausend Scherben, als ein helles Licht die Zelle erleuchtete und jemand Quo von Seraja mit einem wütenden Aufschrei hinunterzerrte.
Sobald das Gewicht von ihrem Brustkorb verschwunden war, rang das Elfenbeinmädchen panisch nach Atem, hustete und schluchzte und krümmte sich zu einem menschlichen Ball wie die kranken Gefangenen es so gern taten.
Aus weiter Ferne drang das Geräusch von festen Schlägen auf allzu brüchige Knochen zu ihr. Sie vernahm, wie etwas unter lautem Stöhnen des Besitzers barst und wie das Atmen für einen Mann zur Qual wurde, weil sein Mund sich mit Blut füllte. Darüber hinweg wurden einige Worte zu ihr getragen: „Wer sich gegen meine Befehle stellt, der leidet. Das weißt du, Quo. Du hast dir deine Strafe selbst zuzuschreiben und wenn du es noch einmal wagen solltest eine von ihnen anzufassen, dann landest du selbst hier unten."
Dann verstummten die Schläge so schnell sie gekommen waren und wurden von lautem Husten und festen Schritten, die auf Seraja zukamen, ersetzt. Sie presste ihr Gesicht noch fester gegen ihre Knie um sich vor weiteren Angriffen zu schützen. Furcht saß in ihr wie ein Parasit und wartete nur darauf neue Nahrung zu finden.
Eine Hand berührte sie vorsichtig an der Schulter.
Seraja wimmerte ängstlich auf.
Sie wollte wieder zurück in ihre Träume. Dort war alles gut gewesen.
„Keine Angst. Ich...ich bins, Theo. Ich werde dir nichts tun. Du bist in Sicherheit. Ich... Oh, bitte, sag doch was. Lass mich dir helfen. Du brauchst kein Angst zu haben." Beinahe zärtlich glitten seine ruhigen, ein wenig ängstlichen Worte in ihren Verstand.
Sie hatte zwar noch immer Angst, aber als Theo sie das nächste Mal berührte, während er weiter leise auf sie einredete, wimmerte sie nicht und ließ es sogar zu, dass er sie auf seinen Schoß zog und sie im Schneidersitz sanft hin und her wiegte.
Seine großen Hände berührten ihren Körper so vorsichtig, als würde sie aus dünnem Glas bestehen, das schon beim kleinsten Schlag brechen würde und vielleicht war es genau so im Moment. Sie wusste es nicht.
Was sie aber wusste war, dass sein Duft nach Seife und Sommerregen sie einhüllte wie einen Kokon. Sie presste ihr Gesicht gegen den Spalt T-Shirt, der zwischen der offenen Jacke hervorschaute. Unter seiner Brust schlug sein Herz schnell, noch vom Adrenalin angetrieben. Es pulsierte unter seinem Brustbein wie schlagende Pferdehufe und sprach von purem, reinen Leben, das er gerade fühlen musste.
Seraja fing an zu zittern und Theo presste sie noch etwas näher an sich. Seine Hände fuhren an ihren Seiten auf und ab, als wollte er sie wärmen.
Seraja fühlte sich im Moment überaus wohl in den Armen des Mannes, der sie vor dem Monster gerettet hatte, was sie deutlich irritierte. Sie kam den Berührungen von Theo entgegen anstatt sich abgestoßen von ihnen zu fühlen. Das entsprach nicht der Reaktion auf derartige Übergriffe, wie sie gerade einen erlebt hatte, von denen sie gelesen hatte. Sie sollte angeekelt sein und sicher nicht die Nähe eines im Grunde genommen Fremden suchen, der eindrucksvoll bewiesen hatte, dass er zu Gewalt fähig war.
Dennoch tat sie es und schmiegte sich in seine Körperwärme und seinen Geruch. Ihre Sinne wurden von den Eindrücken ertränkt und vernebelt und wohlig warm eingeschlossen bis sie sich nicht mehr an die anderen Hände erinnern konnten, die sie vor kurzem noch gereizt hatten.
„Kannst du stehen, Seraja?" flüsterte Theo nach einiger Zeit, als sich ihr Zittern beruhigt hatte.
Sie hob ihren Kopf von Theos Shirt auf dem sich inzwischen ein nasser Tränenfleck abzeichnete. Langsam nickte sie und löste sich aus seinen Armen.
Sanft half er ihr auf und stützte sie bis Seraja ihren festen Stand wiedererlangt hatte.
Sie wischte sich über das verschmierte Gesicht und sah sich einen Moment lang um. Fira, Nat und Pete standen mit besorgten Gesichtern in der Gittertür.
Das Mädchen mit den roten Haaren hatten Tränen in den Augen und in ihrem Gesicht spiegelte sich die Furcht wieder, die sie um Seraja hatte. Fira wollte sie in den Arm nehmen und trösten und berühren bis sie wieder glücklich war. Sie wollte an Serajas Seite stehen wie Theo es gerade tat.
Fira und die beiden Wachen mussten Theo geholt haben.
„Danke." sagte Seraja mit einer Stimme, die gebrochener klang, als sie sich wünschte. .
Es war gut, dass sie es nicht selbst versucht hatten. Alle standen sie unter Quo in der Hierarchie und damit hätte jeglicher direkter Versuch ihr zu helfen nur zu einer Bestrafung geführt.
„Schafft ihn mir aus den Augen!"
Theos Stimme war eisig. Mit dem Finger deutete er kurz auf das am Boden liegende Monster, das noch immer etwas Blut spuckte.
Die zwei Wachen eilten sofort zu der zusammengebrochenen Gestalt, zogen ihn nach oben und hielten seine Arme auf seinem Rücken. Er sah aus wie ein Strafgefangener, der abgeführt wurde.
Als die zwei Wächter zusammen mit dem Blutiggeschlagenen die Gittertür passierten, eilte Fira auf Seraja zu um wenigstens zu versuchen sie zu trösten, aber auf halber Strecke wurde ihr Weg von einer überraschend lauten Stimme unterbrochen.
Blutige Spucke floss über Quos aufgeschlagene Lippe, als dieser stoppte und sein blutiges Gesicht zu Theo drehte: „Du musst sie auch bestrafen." Er machte eine Kopfbewegung in Serajas Richtung.
„Wie bitte?" erwiderte der Kommandant mit zorniger Stimme und trat nach vorne, hin zu dem Verletzten.
Quo grinste böse, sodass ihm Blut aus den Lippen lief und antwortete: „Oh doch, das hat sie. Du hast mich bestraft, weil ich deinen Befehlen zuwider gehandelt habe und weil ich ein Mitglied unseres Lagers angegriffen habe, falls ich das richtig verstanden habe. Dein kleiner Schützling hat etwas sehr ähnliches getan. Sie hat mich nämlich mit grundloser Gewalt davon abgehalten deinem Befehl Folge zu leisten. Ich wollte die Rothaarige nur zum Verhör bringen."
„Was meint er mit 'Verhör'?" fragte Seraja langsam und ließ ihren Blick zwischen Quo und Theo, der inzwischen unwillig seine Fäuste geballt hatte, hin- und herschnellen.
„Wieso denkst du denn, halten wir die Gefangenen im Lager?" erwiderte Quo schmunzelnd. Er sprach mit ihr wie mit einem kleinen Kind. „Alle paar Wochen werden die Gefangenen – zumindest solang sie noch dazu imstande sind – verhört mit konventionellen und auch etwas ... unkonventionellen Methoden. Wir sind im Krieg. Was hast du denn gedacht, wieso die hier unten sind und unser Essen wegfressen?"
Seraja starrte erst Quo, dann Theo an. Es brauchte einen Moment bis sie wirklich verstand, was der Verletzte gesagt hatte. Sie wich zurück bis sie schließlich direkt vor Fira stand.
Niemand würde sie jemals wieder anfassen. Niemand. Dafür würde Seraja sorgen, vollkommen unwichtig, was dafür nötig war.
„Also, Herr Kommandant?" Quo sprach den Titel wie eine Beleidigung aus. „Wie lautet dein Urteil? Wie wird ihre Strafe aussehen? Und erinnere dich daran, dass alle Mitglieder dieses Lagers gleich behandelt werden müssen. Gleiches Recht für alle. Erinnere dich an die Worte von deinem Antrittstag." Quo lachte leise, bösartig.
Was hatte man ihm nur angetan, dass er so war, wie er war?
Theo starrte das Monster wütend an. Es schien, als wollte er zu Ende bringen, was er vorhin begonnen hatte.
Seraja tastete nach Firas Hand und ergriff sie.
Die Situation war gefährlich. Sehr gefährlich.
Theos Körper spannte sich an und er löste seinen Blick nur schwer von Quo.
Angst ballte sich in Serajas Inneren zusammen bis es wehtat. Sie wusste, was jetzt kommen würde. Sie wusste es, aber sie hoffte, dass sie sich täuschte.
Fira zog Seraja an ihrer Jacke näher zu sich. Die Rothaarige wollte sich vor sie schieben, aber Seraja hielt sie fast unsichtbar kopfschüttelnd auf.
Der Kommandant wandte sich hoch aufgerichtet dem Elfenbeinmädchen zu. Sein Blick war leer, als er mit kalter Stimme befahl: „Stell dich dort hin."
Er deutete auf die Mitte der Zelle und nahm selbst ein wenig davor Platz.
Es war schwer Firas Hand abzuschütteln und sich auf den angewiesenen Fleck zu stellen. Es war sehr schwer und Firas immer fester werdender Griff half nicht gerade dabei.
Sie schaffte es sich von dem Mädchen zu lösen. Sie tat es um Fira zu schützen, denn jede Zuwiderhandlung würde Folgen haben. Seraja wollte der Rothaarigen keine Chance dafür lassen.
„Wer meine Befehle missachtet, der leidet. Alles, was nun geschieht, hast du dir selbst zuzuschreiben." stellte der Kommandant ruhig fest.
Etwas Ähnliches hatte er schon bei Quo gesagt. Vermutlich war es eine Art Floskel, die er benutzte, bevor er seine Strafen ausführte.
Angst lähmte Serajas Glieder, sodass sie nur in der Mitte der Zelle stehen und den Kommandanten anstarren konnte.
Sein äußeres Ich wirkte gefasst und unbarmherzig. Nur an seinen zitternden Fäusten konnte man sehen, dass unter dieser Anführerhülle noch der achtzehnjährige Junge lag, der Seraja gerade auf seinem Schoß gewiegt hatte bis sie sich beruhigt hatte.
Der Kommandant hob seine Faust an und holte aus. Für einen winzigen Moment blitzte in seinen Augen eine ungekannte innere Qual auf, die aber von der bekannten Leblosigkeit und Kälte ersetzt wurde, als der Arm nach vorne schnellte und Seraja im Gesicht traf.
Für einen winzigen Moment war da nichts. Einfach nur Leere, die sich in ihrem Körper ausbreitete und alle Gefühle von Angst über Verrat und Schock einfach verschlang.
Sie bemerkte ruhig, wie der Schlag sie nach hinten auf den Boden schleuderte.
Sie bemerkte, dass ihre Nase brach und ihre Gesichtshaut aufplatzte.
Sie bemerkte, wie das warme Blut sich seinen Weg von Innen nach außen bahnte.
Dann bemerkte sie den Schmerz. Wie eine Explosion flutete er über sie und verstärkte sich, als sie auf der harten Erde aufschlug.
Sie konnte die Blutergüsse fühlten, bevor sie irgendjemand sehen konnte.
Seraja riss ihren Mund zu einem stummen Schrei auf und drückte ihren Rücken durch, weil jede Berührung mit dem Boden schmerzte.
Wieder quollen Tränen aus ihren Augen. Ihre aufgeplatzte Haut weinte mit ihr.
Der Schmerz loderte in ihr wie ein Inferno und versengte ihr Inneres und ihre Gedanken. Das einzige, was blieb, war der leere Gesichtsausdruck des Kommandanten, als seine Faust ihre Wange getroffen hatte.
Seraja rollte sich auf die Seite und presste ihre Lider aufeinander um die Tränen zurückzuhalten.
Schweiß durchnässte ihre Kleidung und lief heiß ihren Rücken hinab.
Fira stürzte augenblicklich zu ihr und begann die wenige unbeschädigte Haut zu streicheln um Seraja zu beruhigen, wie um ihr zu zeigen, dass sie nicht alleine war.
Seraja meinte das Mädchen weinen zu hören.
Sie meinte sie hören, wie sie alle Männer in diesem Raum verdammte und verfluchte.
Sie meinte zu hören, wie die Rothaarige um Hilfe bat.
Theo kam erst, als Pete und Nat das Monster davon geschleppt hatten und somit außer Sichtweite waren.
Seraja sah durch ihr zugeschwollenes Auge, wie er vor ihr stehen blieb.
Sie hörte Fira fauchen: „Verschwinde! Hast du nicht schon genug getan?!"
„Ich will ihr doch nur helfen, ich verpre-" Seine Stimme klang leer. Ganz furchtbar leer.
Sie spürte, dass Fira ihren Platz an Serajas Seite verließ und sich ganz dicht vor Theo stellte.
Voller Hass zischte das Mädchen: „Du hast das Recht verloren ihr zu helfen. Als du das getan hast, hast du das Recht verloren ihr zu helfen. Wenn du es wagst sie anzufassen, dann..."
Jetzt wurde Theo langsam wütend: „Dann was? Du bist die Gefangene, ich der Kommandant. Vergiss deine Position gefälligst nicht!" Der Zorn schwand so schnell aus seiner Stimme wie er gekommen war und ruhig meinte der junge Mann: „Schau dich doch um. Wenn sie hier bleibt, dann werden sich die Wunden entzünden. Wenn du willst, dass es ihr bald besser geht und sie keine bleibenden Schäden hiervon behält, dann musst du zulassen, dass ich sie in mein Zelt bringe. Dort hab ich sauberes Wasser und Desinfektionsmittel."
Er schwieg kurz, die beiden Menschen wechselten in aller Stille Blicke, die Seraja nicht zuordnen konnte, aber schließlich meinte Fira: „Gut. Nimm sie mit. Mach, dass es ihr besser geht. Tu etwas gegen ihre Schmerzen."
Die Rothaarige gab den Weg zu Seraja frei.
Da die Schmerzen immer unerträglicher wurden und ihr Kopf bei jedem Schlag ihres Herzens zu explodieren schien, bekam Seraja nur noch sehr vage mit, wie Theo sie so sanft wie nur möglich – sie hätte nicht erwartet, dass er so mit jemandem umgehen konnte – hochhob und aus den Katakomben trug.
Es dauerte nicht lange, da wurde alles schwarz.

Als sie wieder zu sich kam, lag sie halbnackt auf einem Bett – einem echten Bett mit Matratze und Decke – ihr Körper war nass und ihre Haare trocken.
Mit sanften Bewegungen massierten raue Finger eine streng riechende Salbe in ihre Gesichtswunde. Es brannte, aber auf eine gute Weise.
Ihr Rücken war heiß und prickelte auf eine Art wie nur Medikamente es hervorrufen konnten. Dort war Theo also schon gewesen. Das erklärte die fehlende Kleidung und ihren in eine Strickdecke eingewickelten Körper. Soweit sie das beurteilen konnte, hatte sie wenigstens ihre Unterwäsche noch.

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