Pfad der Nacht. - Part 2

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Als Seraja in den Gang trat, schlossen sich ihre Hände schmerzhaft fest um die Waffe. Ihre Knöchel traten weiß hervor.

Auf dem schlichten Betonboden lagen unzählige aufgeschlagene Bücher. Das helle Weiß leuchtete in dem schummrigen Licht. Teilweise waren Blätter herausgerissen und Stiefelabdrücke zogen sich über die Seiten. Manche der Bücher waren durchlöchert von Kugeln und die Regale waren zu großen Teilen zerstört, so als wäre eine randalierende Menschengruppe hindurchgezogen, was ja auch geschehen war. Aber nichts davon löste Serajas rasendes Herz, den kalten Schweiß auf ihrem Körper und die Tränen in ihren Augen aus, die augenblicklich erschienen waren, als sie durch die Tür getreten war.

Wie Puppen lagen viel zu viele farblose Menschenkörper auf dem Boden. Verrenkt in den groteskesten Posen. Manche lehnten beinahe entspannt an der Wand mit vorgefallenem Kopf, so als würden sie schlafen. Andere lagen wie ein umgekehrter Schneeengel mit dem Gesicht auf den Grund gerichtet da. Es schien, als wären sie vor etwas davongelaufen. Wieder andere waren ineinander verheddert, als hätten sie versucht einander zu schützen.

Die ehemals tarnfarbene Militärkleidung war an jedem Körper vollgesogen mit dem roten Blut, Spritzer von Gehirnmasse und Lebenssaft bedeckten Gesichter und Bücher. Selbst die Wände und Schränke wurden davon geziert.

Hier und da lagen auf Nigolorer am Boden, aber Eboris überwog deutlich.

In dem engen Gang stank es nach Tod, Metall, Schießpulver und allerlei menschlichen Ausscheidungen, die sich in die zähgetrocknete Masse am Boden gemischt hatten. Der Gestank war derartig schlimm, dass Seraja die Galle und die Fischbrocken hochkamen und sie sich nur schwer davon zurückhalten konnte zu kotzen.

Ungezählte leere Augen folgten jeder ihrer Bewegungen mit totem Blick.

Manche Menschen glaubten an Geister. Nun verstand Seraja wieso. Im Vergleich zu diesem Massaker war ihr eigener Mord an dem Mann aus Aquarius noch annehmbar gewesen, denn das hier...

Die eborianischen Leichen waren in unregelmäßigen Abständen auf dem Boden drapiert und es schien, als wäre die nigolorische Armee über sie hinweggelaufen wie über die Bücher.

Seraja wusste nicht, was sie tun sollte um diesen Menschen den wohlverdienten Frieden zu beschaffen, da die Toten ihrer Heimat im ewigen Eis eingelassen wurden, das unter der Kuppel existierte. Es gab lange Gänge, die aufgefüllt waren mit den Verstorbenen und tief hinein in den Boden reichten. Die Katakomben durchzogen Eboris wie die U-Bahntunnel die Städte vor dem Krieg.

Hier würde sie so etwas nicht finden.

Seraja erwiderte den Blick einer toten Soldatin, die ihr gegenüber mit zerrissenem Hals an der Wand lehnte und ihren Kopf gegen ein zersprungenes Regal stützte. Das lebende Mädchen sank zu Boden, verschränkte ihre Hände wie zum Gebet über ihrer Waffe und begann leise die normalerweise gesungene Totenweihe ihres Volkes zu flüstern. Es waren unkenntliche Worte, die über ihre Lippen drangen, aber die Melodie eben dieser erfüllte den Gang mit schauderhaftem Leben.

Ihr Blut rauschte zu laut in ihren Ohren, als sie endete und sich erhob. Kopfweh stach wie ein Messer in ihre Stirn und die schlechte Luft ließ alles schummrig werden.

Sie wollte die Räume nicht sehen deren Türen zumeist von Leichen offen gehalten wurden.

Es schien ihr, als würde bei jedem Schritt, den sie tat, ein Stückchen Seele, ein Stückchen Leben aus ihrem Körper gesaugt werden.

Sie brauchte frische Luft. Es würde niemanden etwas bringen, wenn sie sich auf die Toten übergab oder zwischen ihnen ohnmächtig wurde.

Das Glitzern der toten Augen jagte ihr Panik durch die Glieder und bei jedem Geräusch, das ihre Schuhe auf dem klebrigen Grund verursachten, während sie sich ihren Weg durch die Leichen hindurch suchte, fuhr sie panisch zusammen aus Angst, auf einen Finger oder ein Bein getreten zu sein.

ElfenbeinmädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt