Pfad der Nacht. - Part 1

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In Serajas Welt war das so eine Sache mit Gefühlen.

Im Grunde genommen brachten sie einem kaum und wenn nur geringe Vorteile, dafür aber eine ganze Tonne Nachteile.

Serajas Mutter hatte ihr oft, als sie klein gewesen war, gesagt, dass sie nicht weinen sollte, dass sie nicht zu laut lachen sollte und vor allem, dass sie ihre Zuneigung nicht allzu offen preisgeben sollte. Wenn man das tat, dann hatte man in Eboris beinahe keine Chance aufzusteigen und irgendeine einflussreiche Position einzunehmen. Als Frau war es verpönt, wenn man Emotionen zeigte.

Vielleicht hatte Levana deshalb nicht geweint, als sie ihre Tochter in den Krieg geschickt hatte. Zumindest hoffte Seraja, dass das der Grund war.

Männer durften ihren Gefühlen freien Lauf lassen, sie durften Wut und Angst und Freude und Liebe  genauso ausleben, wie sie es fühlten. Der Tochter der Sorella Matris hatte man beigebracht, das nicht zu tun.

In der Welt außerhalb der Kuppel war diese Lehre nach und nach verschwunden.

Sie hatte aus Angst geweint, vor Wut geschrien, vor Liebe geseufzt und sogar manchmal vor Freude gelacht. In den Stunden, die sie in der kalten, langsam eintrocknenden Blutlache verbrachte, dem umherlaufenden oder lesenden Mädchen mit den Augen folgend, wurde ihr klar, dass sie in der Zeit hier draußen, ihr eborisches Wesen verloren hatte.

Alles, was sie als eborische Frau ausgemacht hatte, war verschwunden und darum spürte sie nun, wie Angst und Trauer, Wut und Hass sich in den Scherben ihres gebrochenen Herzens und zwischen den Kadavern der Schmetterlinge in ihrem Inneren sammelten.

Sie weinte. Sie weinte so lang, dass es wehtat, wenn sie weiter weinen würde. Aber das Problem war, dass sie nicht nur wegen das Genozids an ihrem Volk oder des Mordes an dem anderen weinte, nein, sie tat es auch, weil sie jetzt endgültig alleine war.

Sie weinte, weil Theo gegangen und Fira tot war und weil ihr Herz, ohne dass sie etwas dagegen hatte tun können, mit dem Verschwinden der beiden immer wieder aufs Neue zerbröckelt war.

Das Mädchen und der Junge aus fremden Kuppeln hatten es geschafft ihr Herz zu rauben und sie mit zwei Löchern in der Brust zurückzulassen.

Sie weinte, weil sie sich fühlte wie eines der Mädchen aus Büchern vergangener Zeiten, dessen Welt unterging, weil ihre Liebe sie verlassen hatte. Das Groteske an der Sache war, dass Serajas Welt untergegangen war oder es zumindest tun würde, aber sie sich so fühlte, weil Fira und Theo nicht mehr bei ihr waren.

Sie war allein. Und demnächst würde sie die Letzte ihres Volkes sein.

Wieso hatte die Allmutter sie zu diesem Schicksal verdammt? Wie begründete die Göttin das?

Wieso wachte sie nicht über ihre Töchter?

Das kleine Mädchen saß einige Meter von Seraja entfernt.

Das Kind zuckte zusammen und ließ beinahe das rote, mit ‚Eragon' betitelte Buch aus ihren Händen fallen, als plötzlich ein seltsames, stöhnendes Geräusch durch das Bibliothekszimmer hallte.

Die Kleine klappte das Buch zu und wischte sich mit ihren Patschehändchen über das Gesicht um die stetig rollenden Tränen zu beseitigen. Wenn Seraja darüber nachdachte, dann hatte das Mädchen seit sie die Geschichte aufgeschlagen hatte, die Seite nicht umgeblättert. Sie hatte nur mit leerem Blick darauf gestarrt.

Vielleicht standen die Worte ihrer Mutter auf diesem Blatt.

Ein weiteres Stöhnen wurde durch den Raum getragen. Diesmal deutlicher und lauter. Wenn sich Seraja nicht täuschte, dann konnte sie Stoff rascheln hören.

ElfenbeinmädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt