Für deine Welt, nicht dein Land. - Part 1

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Ein Geräusch, das klang als würde der Himmel auf die Erde fallen und dort zerschellen, riss Seraja aus ihren Albträumen von alles verschlingender Finsternis.

Mit angstvoll aufgerissenen Augen kämpfte sie sich aus dem Schlafsack, der sie einhüllte wie ein Kokon und rannte in dem vormorgentlichen Dämmerlicht zu dem kleinen Plastikfenster in der Zeltwand.

Dieses Kommandantenzelt war nach der Vereinigung der Armeen von Nigolor und Eboris nicht weit vom See entfernt aufgebaut worden. Dadurch hatte man direkten Blick auf die Kuppel in der Mitte des Aquariussees. Es hatte einen Plastikboden, weil der Boden ziemlich feucht war.

Die Wellen des Sees peitschten glutrot gegen das neue Ufer, das sich in den letzten Jahren gebildet hatte.

Die Schutzmembran der Stadt brannte lichterloh und erhellte den sonst dunklen Vormorgen.

Das brüllende Feuer, gepaart mit den peitschenden Wellen und den Schreien der Bewohner der fallenden Stadt erzeugten von einer Sekunde auf die andere einen kaum ertragbaren Lärm, der Seraja allein vom Hören die Tränen in die Augen und die Hände auf die Ohren zwang.

Gestern hatte all das noch anders ausgesehen.

Am späten Nachmittag, kurz bevor die Dämmerung einsetzte und der Himmel sich rot färbte, waren sie den ersten Ausläufern des eborianischen Belagerungslagers begegnet.

Die Zelte waren in einer Art Halbkreis an das Seeufer angelegt worden und glichen denjenigen von Nigolor aufs Haar. Der einzige Unterschied war, dass darin von Frauen angeführte, schneefarbene Menschen lebten. An solchen Kleinigkeiten erkannte man, dass die komplette noch lebende Menschheit von den selben Menschen mit demselben Wissen abstammte.

Die Vereinigung der Armeen war nicht besonders spektakulär vonstatten gegangen. Der einzige mitgereiste General von Eboris hatte die Verstärkung von Nigolor erwartet. Sie stand mit einer kleinen Gruppe Kommandantinnen vor dem Belagerungsring, als Theo den Laster vorfuhr. Der General wies Nigolor seinen Platz im Belagerungsring zu und teilte Theo mit, wann und wo die erste Besprechung der Generäle und Kommandanten stattfinden würde. Dort würde man den bisherigen Stand der Dinge abklären, sowie den Verlauf der nächsten Tage und einen gemeinsamen Plan für die Eroberung erstellen.

Sobald das festgelegt war, erklärte Theo sich bereit die Informationen weiterzugeben und sie fuhren zu ihrem angewiesenen Lagerpunkt. Die Lasterkarawane von Nigolor befuhr zwar nur die Ränder des eborianischen Lagers, aber trotzdem trieb der Anblick ihres Volkes – so wohlbehalten, gesund und ungebrochen sie in dieser Welt waren – Tränen in Serajas Augen. Die Männer und Frauen in der eborianischen Armee arbeiteten Hand in Hand und niemand von ihnen schien auch nur Ansätze dessen erlebt zu haben, was die Elfenbeinmädchen in Serajas Lager durchmachten. Am liebsten wäre sie aus der Fahrerkabine gesprungen und hätte sich in die Arme ihres Volkes geworfen, aber stattdessen wandte sie ihren Blick ab und wischte sich unauffällig die melancholischen Freudentränen aus den Augenwinkeln.

Es war wohl doch nicht alles Gute mit Fira von dieser Erde verschwunden.

Theos Stimme hatte sie aus ihren Gedanken gerissen, als er leise gesagt hatte: „Schau mal, Seraja. Das ist Aquarius."

Bei diesen Worten hatte sie ihren Kopf gehoben und nach vorne durch die Frontscheibe geschaut. Dank der freien Fläche, die sie am eborianischen Lager entlang befuhren, hatte sie freien Blick auf den See und die Kuppel gehabt. Auch wenn man auf der Hinfahrt die Wasserscheibe des Sees bereits bewundern konnte, war die Kuppel doch kaum zu erkennen gewesen, aber das hatte sich in diesen Moment geändert.

Die bläuliche, sich langsam rot färbende Himmelsdecke wurde von der überraschend glatten, aber dennoch gigantischen Wasserfläche, die die eigentliche Kuppel umgab, widergespiegelt. So viel flüssiges Wasser hatte das Elfenbeinmädchen noch nie an einem Ort gesehen und sie fragte sich, ob so das Meer aussah von dem in so vielen Büchern ihrer Kindheit die Rede gewesen war. In diesem Moment erstreckte sich der See nämlich zu allen Seiten bis zu der Begrenzung ihres Blickfeldes und mitten drin thronte in weiter Ferne eine Stadt, die aus Spiegeln zu bestehen schien.

ElfenbeinmädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt