Das Nichts, das seitwärts geht. - Part 2

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Hier hatte die Natur sich die Erde zurückgeholt.

Sie stand in der Mitte einer Stadtruine. Vor dem Krieg war dieser Ort wohl eine Großstadt mit Wolkenkratzern gewesen, aber jetzt lagen nur noch große, verrostete, metallene Trümmerteile zwischen den Betongerippen, die von Moosen, Gräsern und Pilzen überwachsen waren. Kletterpflanzen, Sträucher und sogar Bäume wucherten in und um den zerfallenen Betonruinen. Dieser Ort war eine skurrile Mischung aus Leben und Tod.

Seraja wusste zwar, dass es zwischen den Kuppeln Orte gab an denen Pflanzen wild und unberührt wucherten und sich sogar Tiere niedergelassen hatten, aber sie hatte einen solchen Ort noch nie gesehen. Pflanzen kannte sie nur aus den Plantagen ihrer Heimat, den Gärten von Nigolor und den angebrannten Wiesen und Wäldern um das Lager.

Als sie klein gewesen war, hatte ihr Vater ihr von Orten wie diesem erzählt. Damals hatte sie sich eine Welt vorgestellt, die voll war mit Wundern, Tieren und Leben, in der man keine Angst haben musste vor den anderen Menschen. Sie hatte sich ausgemalt, wie ein Leben ohne die Kuppel sein könnte.

Heute wusste sie, dass es hier draußen nicht besser war, als dort drinnen.

„Vorhin war er in dem Haus neben dem Bach." sagte 104, als er neben sie trat. Er deutete die Hauptstraße auf der sie standen entlang.

Seraja konnte den kleinen Bach sehen, der sich seinen Weg durch die zerbröckelte Betonstraße gebahnt hatte.

Sie nickte und lief los.

Die Soldaten liefen um sie herum, bauten ihr Lager in den Häusergerippen auf und ignorierten Seraja.

Als sie bei dem Bach angekommen war und ihn mit einem kleinen Sprung überwand, konnte sie Theos Stimme hören, die aus einer Betonruine zu ihr drang.

Sie wandte sich nach rechts und konnte durch leere Fensteröffnungen Theos Rücken sehen. Er sprach gerade mit zwei Soldaten und gab ihnen Anweisungen. Seraja hatte keine Chance zu lauschen, da die zwei Männer nur einen Augenblick später aus der Ruine traten und Theo allein zurückließen.

Darum ging sie auf die ehemalige Tür des Hauses zu und trat ein.

„Was soll ich machen?" fragte sie mit leiser Stimme und starrte Theos Rücken an. Er massierte sich gerade im Stehen die Schläfen.

Beim Klang ihrer Stimme stoppte er sein Tätigkeit sofort, drehte sich um und sagte: „Häng die Plastikplanen ins Fenster und in die Tür. Versuch am besten ein Feuer zu machen, weil es hier draußen nachts ziemlich kalt werden kann und mach irgendetwas zum Abendessen. In einer halben Stunde gibt es eine Besprechung hier drin. Lass dich davon nicht stören. Ach, und roll bitte auch die Schlafsäcke aus. Am besten irgendwo in der Nähe vom Feuer. Ich muss noch was erledigen."

Damit verschwand er aus dem Gebäude. Seine Fürsorge von heute Morgen war weg. Einfach weg.

Sie bedauerte das.

Das Betongerippe war recht groß und ungefähr in der Mitte wuchs ein Baum aus dem Boden. Seine Rinde war braun und rau und seine Äste gingen nicht in die Höhe, sondern in die Breite und fungierten damit als eine Art Dach. Eine dicke Erdschicht machte den Boden des Gehäuses aus. Mehrere kleinere Pflanzen wuchsen darauf und zwischen dem grünen Gestrüpp lagen Samen, die etwas an die Tannenzapfen aus vergangenen Zeiten erinnerten. Ledrige Blätter in verschiedenen Verwesungsstadien waren überall ausgebreitet.

Am Baumstamm lehnten einige dicke Plastikplanen und Theos Gepäck. Seraja stellte ihr eigenes daneben und rollte die Planen aus. Die, die für die Fenster und die Löcher in den Wänden gedacht waren, waren kleiner, als diejenige für die Tür. An ihren Rändern war ein bestimmter Klebstoff angebracht, der mehrmals klebte, aber recht Widerstandsfähig war. Seraja kannte ihn aus ihrer eigenen Kuppel, wusste aber nicht genau, wie er funktionierte. Vermutlich waren die Planen dazu gedacht zumindest etwas Wärme im Inneren des ehemaligen Hauses zu halten.

ElfenbeinmädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt