Am nächsten Tag war ich ziemlich erschöpft. In der letzten Nacht hatte ich schlecht geschlafen. Mein Kopf dröhnte und meine Knochen fühlten sich an, als hätte ein Elefant darauf übernachtet.
Eigentlich hatte ich mir angewöhnt jeden Morgen eine kleine Runde durch den Park zu spazieren. Da ich sowieso nichts anderes zu tun haben würde. Denn die Sommerferien waren vorbei und Charlotte musste wieder in die Schule gehen.
Normalerweise kam meine Enkelin immer summend und hüpfend aus der Schule. Doch an diesem Tag war es anders.
Von meinem Fenster konnte ich sehen, wie Charlotte mit vor Trauer verzerrtem Gesicht über die Rasenfläche stolziert kam.
Den Kopf hielt sie gesenkt und ihr langes rotes Haar flatterte im Wind hinter ihr her...
***
Als Charlotte das Haus betrat, kündigte ein lautes Türenknallen ihre Ankunft an. Angestrengt lauschte ich auf die Geräusche im Haus, doch alles was ich hörte war Stille. Und das bereitete mir ein mulmiges Gefühl.
Eigentlich kam Charlotte immer gleich nachdem sie aus der Schule kam, zu mir nach oben. Weil die Schüler auf ihrer schicken Privatschule nur sehr selten Hausaufgaben bekamen. War es eigenartig, dass sie sich so lange in ihrem Zimmer verkroch.
Nach beinahe einer Stunde, die ich mit den Fingern trommelnd auf meine Enkelin gewartet hatte, trieb mich die Neugier nach unten.
Mit unsicheren Schritten und auf meinen Stock gestützt tatstete ich mich Schritt für Schritt vorwärts.Ich hatte ein wenig mühe mich auf den Beinen zu halten und nicht über Teppichfalten oder hervorstehende Dielenbretter zu fallen. Doch es gefiel mir mal wieder auf eigene Faust durch mein Zuhause zu flanieren. Und erst in diesem Moment würde mir bewusst, dass sich in der letzten Zeit einiges verändert hatte.
Es wurde langsam Herbst, weshalb die meisten Familienmitglieder wieder abgereist waren. Nach London, Canterbury, Glasgow und wo sie sonst noch alle herkamen.
Der Blumenschmuck des Sommers war verwelkt und durch gestecke aus Zweigen und immergrünen Pflanzen ersetzt worden.
Und in den Kaminen prasselten behagliche kleine Feuer.Vorsichtig klopfte ich an das weiß gestrichene Holz von Charlottes Zimmertür. Aber es kam keine Reaktion. Ich legte meine Hand auf die Klinke, doch meine Enkelin hatte die Tür verschlossen.
"Charlotte? Hier ist deine Großmutter" rief ich durch die Tür, doch noch immer kam keine Reaktion. "Du kannst doch eine alte schwache Dame nicht so lange vor deiner Tür warten lassen."
Mein Vorwurfsvoller Ton schien etwas bewirkt zu haben, denn kurz darauf hörte ich das Klicken des Schlosses und Charlotte öffnete mir die Tür.
Ihr Gesicht sah bleich aus, doch ihre Augen waren rot und geschwollen.Vorsichtig nahm ich Charlotte in den Arm und strich ihr beruhigend über den Kopf. Charlotte war groß für ihr Alter. Doch ich überragte sie mit meinen einhundert Jahren immer noch um ein paar Zentimeter.
"Was ist denn los? Mein Liebes?" Fragte ich vorsichtig und schloss die Tür hinter uns.
"Ich habe ihn heute in der Schule gesehen" murmelte sie und wurde von Schluchzern geschüttelt.
Ich führte Charlotte zu ihrem Bett. Wobei ich mich mehr auf sie stützte als dass ich sie führte.
"Also, was ist nun passiert?"
"Er war mit irgendeiner Tussi auf dem Jungsklo..." noch mehr Tränen rannen über ihr wunderschönes Gesicht.
Ich verstand nicht, was daran so schlimm sein sollte. Doch nachdem ich ein wenig darüber nachgedacht hatte dämmerte es mir ...
"Du meinst doch nicht wirklich, dass sie Sex hatten" fragte ich entgeistert. Denn schon die Vorstellung daran ließ mich vor Ekel erschauern.
"Doch" schluchzte meine Enkelin und fügte hinzu: "das hat zumindest Leo gesagt.""Wer ist denn Leo?" Fragte ich skeptisch.
"Nur ein Typ aus meinem Jahrgang..."
"Ich an deiner Stelle würde mich nicht auf sein Wort verlassen, ich würde ihn selbst zur Rede stellen."Charlotte seufzte, "und was wenn es stimmt?"
Ich versuchte eine beruhigende Antwort auf ihre Frage zu finden doch ich glaube das gelang mir nicht ganz als ich antwortete: "wenn er dich wirklich liebt, dann wird er sich daran erinnern und zu dir zurück kommen..."Das war etwas was ich aus eigener Erfahrung gelernt hatte.
"Hat George dich einmal betrogen?" Wollte Charlotte wissen, nachdem sie eine Weile nachdenklich auf ihre Handflächen gestarrt hatte.
Ich atmete tief ein und aus, "ja, es gab eine Zeit in unserer Ehe, in der wir uns oft stritten. Ich hatte in dieser Zeit Angst, dass unsere Liebe nie wieder so werden würde wie früher. Denn George hatte mich betrogen und ich ihn auch irgendwann... Das war der größte Fehler meines Lebens. Doch wir haben irgendwann wieder zusammen gefunden und gelernt uns wieder so zu lieben wie früher..."
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Lady Bentley von Highclere Castle Teil III
Historische fictieLady Bentley ist eine reiche alte Lady, doch das war nicht immer so... Kurz vor ihrem 100.Geburtstag beginnt sie ihre Lebensgeschichte zu erzählen und findet in ihrer Enkelin Charlotte eine aufmerksame Zuhörerin. Sie berichtet von ihrem Leben als...