Heute kommt noch ein Kapitel, weil dieses so kurz ist. Und es wäre natürlich sau cool, wenn ihr das Lied oben beim lesen hören würdet :D
„Das Glück, das dir am meisten schmeichelt, betrügt dich am ehesten."
„Das ist einfach", sagt Benja lässig und beißt in den widerlichen Cafeteriaburger. „Kafka. Charly, wenn du ständig nur Kafka-Zitate nimmst, macht es das nur einfacher."
Charly legt frustriert ihren Kopf auf die Tischplatte, wodurch ihre Baskenmütze etwas von ihrem Kopf rutscht. „Tu doch wenigstens so, als wüsstest du es nicht."
„Niemals. Ich verliere doch nicht in diesem Spiel, nur weil du zu unprimitiv bist. Ich bin dran." Er legt seinen Burger weg und tippt sich nachdenklich ans Kinn. Dann zeigt er auf mich. „Vy. Du bist dran."
Ich nicke nur halbherzig und dann fällt mein Blick hinter Benja, wo Jessica, Brandon und Harry mit den anderem am Tisch sitzen. Brandon sieht öfter mal geknickt zu mir rüber, schon die ganze Pause lang, aber ich muss sagen, dass mich seine Blicke nicht ansprechen. Irgendwie ist es komisch, weil ich vor ein paar Wochen noch verrückt nach ihm war, aber jetzt könnte er mich auf Knien anbetteln, nichts würde sich ändern. Auch nicht seine vielen Nachrichten von gestern, die aus Violet, es tut mir schrecklich leid oder Wo bist du? Bitte lass uns reden, ich vermisse dich so doll bestanden, können mich dazu bringen, ihm auch nur in geringster Weise zu verzeihen.
Es interessiert mich sogar so wenig, dass ich lieber zu Harry sehe, der gerade mit Chris über irgendetwas lacht. Ich hatte heute noch keinen Unterricht mit ihm, deswegen kann ich nicht einschätzen, wie er auf mich reagiert. Aber er wirkt ausgeglichen, was ein gutes Zeichen ist. Gefasst bin ich trotzdem auf alles. Er könnte mich wieder anmaulen, wie er es beim letzten Mal getan hat, als ich dachte, wir seien wieder Freunde und er könnte sich normal mit mir unterhalten. Ich bin bereit.
Auch wenn das gestern Abend noch anders aussah. Nachdem er gegangen ist, war mal wieder einer dieser Abende, in denen ich mit Kopfhörern in den Ohren in meinem Bett lag und nachdachte.
Was, wenn Harry und ich wirklich wieder Freunde werden?
Wird alles so wie früher?
Werde ich mich vielleicht in ihn verlieben?
Wird Harry mich wieder einfach so verlassen, wie er es damals getan hat?
Es waren viele Fragen und ich wusste, ich kannte die Antworten nicht. Ich habe Angst vor jeder Antwort, doch trotzdem hätte ich sie gerne.
Und gestern Abend war auch wieder einer dieser Abende, an denen ich mit dem Song Have It All von Jeremy Kay vor meiner Sockenschublade stand und es tatsächlich wagte, sie zu öffnen. Nicht, weil ich meine Socken wechseln wollte, sondern weil ich nach diesen verdammten Socken ganz hinten in der Schublade greifen wollte. Ich zog sie tatsächlich raus. Nach wie vielen Jahren? Vier. Vier Jahren.
Ich sah sie an, fühlte ihren Stoff und dann traute ich mich, sie auseinanderzufalten, um das Muster zu sehen. Mit schwarzen Faden gestickt, erkennt man noch genau die Initialien V+H und um ehrlich zu sein brachte mich das beinahe zum Weinen. Aber nur beinahe. Ich weinte nicht, aber es machte mich traurig, weil immer wenn ich diese violetten Socken in der Hand halte, Erinnerungen in meinen Kopf kommen, in der ich einer Welt lebe, in der ich glücklich war und zufrieden und hatte, was ich wollte.
Ich dachte, ich könnte diese Socken wieder anziehen, aber ich habe mich noch nicht getraut. Meine Angst, dass das zwischen Harry und mir wieder höllische Nächte bereiten könnte, war zu groß. Deswegen legte ich die Socken wieder weg.
„Wir denken zu viel und fühlen zu wenig."
Ich sehe von Harry zu Benja, der mich erwartungsvoll ansieht. „Benja, heute gewinne ich", verkünde ich und grinse selbstsicher. „Charlie Chaplin aus Der große Diktator. Buhja!"
„Zum Glück gewinnt Benja nicht", stöhnt Charly und nimmt ihren Kopf wieder hoch, während Benja aus allen Wolken zu fallen scheint. „Dieses selbstgefällige Grinsen kann sich echt keiner mehr geben."
Die Schulklingel ertönt, was bedeutet, dass die Pause um ist. Alle Schüler erheben sich Einzelweise und gehen aus der Cafeteria. Also auch Harrys Tisch.
„Jetzt pass mal auf, Charlotte", sagt Benja wütend zu Charly und hebt ihren Finger. „Ich ..."
Ich höre nicht mehr zu. Viel mehr haftet mein Blick auf Harry, der sein Essenstablett wegstellt und dann seine Schultasche richtig schultern. Er will sich gerade zur Ausgangstür wenden, dann treffen sich unsere Blicke.
Mein Herz setzt ungewollt aus.
Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll, das weiß ich wirklich nicht.
Doch Harry zeigt mir, dass all meine Gedanken unwichtig sind, denn er lächelt wieder und dann dreht er sich etwas weg, sieht mich jedoch immer noch an. Er sieht aus, als würde er mir etwas sagen wollen, deswegen runzle ich die Stirn. Und als er dann auch noch zum Ausgang nickt, bin ich komplett durcheinander. Will er, dass ich mit ihm komme?
Aber er verwirrt mich noch mehr, als er einfach geht. Verdutzt blicke ich ihm hinterher. Was war das?
Die Cafeteria leert sich immer mehr und ich höre noch ein wenig Benjas und Charlys typischen Diskussionen zu. Beide streiten sich täglich. Nichts Neues für uns. Hardy ist mittlerweile schon verschwunden.
Als wir die Cafeteria verlassen, gehen Charly und Benja nach rechts, doch ich bleibe stehen. Charly sieht mich verwundert an. „Was ist? Wir haben Englisch."
Ich denke nach und sehe nervös nach links, in die Richtung, in der Harrys Schließfach ist. „Ja, aber – Also ich muss noch irgendwo hin."
Benja zieht Charly mit sich. „Sie will zu ihrem Victor, Charlotte, lass uns gehen."
Charly entzieht sich sofort Benja, doch folgt ihm trotzdem ohne zu quengeln. „Hör auf mich ständig Charlotte zu nennen, Benjamin. Ansonsten ..." Die beiden verschwinden im nächsten Gang.
Ich atme tief durch und dann laufe ich auch schon mit schnellen Schritten nach links. Nur noch vereinzelte Schüler sind in den Gängen, weswegen ich eigentlich schon sicher bin, dass Harry bereits im Unterricht ist. Allerdings kommt er gerne zu spät, deshalb kann es gut sein, dass er irgendwo in irgendeiner Ecke hängt. Ich muss einfach nachsehen, ob er an seinem Schließfach steht.
Und als ich um die letzte Ecke laufe, steht er tatsächlich, gelangweilt an seinem Schließfach lehnend, im Flur und wartet. Ein Grinsen schleicht sich auf meine Lippen, als er zu mir sieht. Ich mag, wie er heute aussieht. Seine Haare sitzen perfekt unperfekt, sind kreuz und quer nach oben, aber seine Jeans schmeichelt seinen langen Beinen und seiner schmalen Hüfte. Sogar sein eigentlich ödes dunkelgraues T-Shirt, das einen leichten Ausschnitt zeigt, sieht stylisch aus. Und wie lässig er auch noch sein grün blau kariertes Hemd an den Ärmeln hochgekrempelt hat. Gemischt mit den schwarzen Schuhen sieht er viel zu gut aus, um Harry zu sein.
„Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr", begrüßt mich Harry und stößt sich von dem Schließfach ab. „Was hast du jetzt?"
„Die netteste Begrüßung ever", sage ich und verschränke die Arme. Witzig, dass ich heute auch ein kariertes Hemd trage. „Ich habe jetzt Englisch und zufällig hast du das jetzt auch. Wüsstest du, würdest du dich für die Schule interessieren."
„Schon klar, wir lassen Englisch sausen", sagt Harry und nimmt sich seinen Rucksack auf dem Boden lag. „Außer natürlich du lässt den Streber raushängen."
„Ich bin kein Streber."
„Ich sage, wir lassen Englisch sausen und das Einzige, das du hörst, ist dass du ein Streber bist. Also, was ist?" Er geht an mir vorbei und dreht sich beim Laufen zu mir. „Kommst du?"
Ich sehe ihm verunsichert hinterher. „Ich weiß nicht", rufe ich ihm hinterher. „Das wäre eine unentschuldigte Fehlstunde und ich glaube nicht, dass meine Mutter mir für so etwas eine Entschuldigung schreibt!"
„Mach dir nicht ins Hemd!" Er geht um die Ecke, seine Stimme höre ich nur noch hallend. „Das könnte der beste Tag deines Lebens werden!"
Ich seufze und lasse ergeben die Schulter hängen. Widerwillig, aber irgendwie auch total willig tapse ich Harry hinterher. Der beste Tag meines Lebens also?
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Violet Socks I HS
Fanfiction"Dich zu verlieren war etwas, womit ich nicht umgehen konnte." Das Schicksal verbindet Menschen, das Schicksal trennt Menschen. Aber manchmal weiß das Schicksal nicht, was es will und dann schlägt es zurück, und das mit Anlauf in violetten Socken...