Ich schrecke sofort auf und wende meinen Kopf von Harry ab, in die Richtung aus der die Stimme kam.
Harry brummt gereizt auf und legt den Kopf zurück, als ich mich ruckartig aufrichte und seine Hand von meiner Wange verschwindet. Verdammt, wer hat uns denn nun erwischt?
Als ich mich mit wildpochendem Herzen umdrehe, sehe ich den Hausmeister, der mit schweren Schritten auf uns zustampft. Er sieht absolut nicht glücklich aus, weswegen ich sofort aufstehe und stramm stehe. Oh, Gott, wir sind geliefert. So was von geliefert.
„Hätte ich es mir ja denken können!", raunzt der Hausmeister und bleibt zwei Meter von uns entfernt stehen, stemmt seine schmutzigen Hände in die Hüften. „Harry, wie oft habe ich dir gesagt, du sollst gefälligst nicht mehr auf mein verdammtes Dach steigen?"
„Schon ziemlich oft", sagt Harry und stellt sich ebenfalls auf. Er zieht sich sein kariertes Hemd wieder über. „Es ist doch nichts passiert. Wie immer."
Ich sehe ihn entsetzt an. Wie kann er so ruhig mit dem Hausmeister reden? Der Hausmeister sieht aus, als würde er uns gleich eigenhändig vom Dach schmeißen wollen!
„Du weißt, dass immer etwas passieren kann!", meckert der Hausmeister. „Ich habe dir einmal erlaubt hier hoch zukommen, aber das bedeutet nicht, dass du nun jeden Tag hier auftauchen kannst! Und vor allem sollst du es niemandem zeigen!"
„Hank, bleib locker", beschwichtigt Harry die Situation und ich kann es nicht fassen, dass er seinen Vornamen kennt. „Wir werden gehen, wenn du das verlangst, aber reg dich einfach nicht auf."
„Mich nicht aufregen?" Hank, der Hausmeister ballt sauer die Fäuste. „Das hast du schon beim letzten Mal gesagt! Diesmal kneife ich kein Auge zu! Zur Direktorin!"
Harry hebt ungläubig die Mundwinkel. Er lacht auf. „Komm schon. Das kannst du nicht ernst meinen."
Doch anscheinend meint der Hausmeister Hank das so was von ernst, denn keine fünf Minuten später sitzen Harry und ich auf genau den gleichen Stühlen, auf denen wir gesagt bekommen haben, dass er in meinem Theaterkurs teilnehmen wird. Genau vor dem Bürotisch von unserer Direktorin Misses Heath. Es ist amüsant, dass wir beim letzten Mal noch wie Magnete waren, die sich abstoßen, doch heute sitzen wir nah aneinander und warten darauf, was Misses Heath uns zu sagen hat, nachdem wir unerlaubterweise auf das Dach gestiegen sind.
Wie schnell sich die Dinge doch ändern können. Wie schnell sich alles doch ändern kann.
Ich tippe nervös auf meiner Stuhllehne herum, während Heath uns nachdenklich über ihre Lesebrille betrachtet. Auch Harry wartet ab.
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll", sagt Misses Heath nach einer ganzen Weile. „Ich weiß es wirklich nicht."
Ich presse die Lippen aufeinander. Gott, hoffentlich lässt sie uns nicht wieder nachsitzen.
„Aber ich stelle euch eine ernstgemeinte Frage." Sie zieht seufzend ihre Brille ab. „Was ist nur los mit euch?"
Überrascht von dieser Frage hebe ich die Brauen. Auch Harry scheint verwirrt zu sein.
„Das letzte Mal saßt ihr hier, weil ihr euch lauthals im Flur gestritten habt und nun muss ich euch ermahnen, weil ihr gemeinsam auf dem Schuldach geschwänzt habt? Ich bin schon viele Jahre Lehrerin, aber so etwas derart Seltsames ist mir noch nie untergekommen."
Wir sagen nichts darauf.
„Wo soll das noch hinführen?", redet Misses Heath weiter. „Was passiert als nächstes? Werdet ihr zu gemeinsamen Drogendealern und dreht den Schülern Marihuana an?"
„Dafür sind schon andere zuständig", sagt Harry.
Ich kichere in meinen Ärmel. Ich kichere. Und als mir das bewusst wird, höre ich sofort auf und sehe Misses Heath wieder an, die mich verdutzt ansieht. Sie findet das wohl wirklich nicht lustig.
„Ihr missachtet jegliche Regeln", sagt sie. „Ihr erscheint nicht zum Nachsitzen und ich bekomme keine Auskunft, wie es im Theater läuft. Violet. Findest du all das richtig?"
Ich kann wieder nichts darauf sagen. Natürlich finde ich das nicht richtig, das weiß sie genau. Die Schule ist mir wichtig, aber ich hatte nun mal viel Spaß.
Heath schüttelt ratlos den Kopf und lehnt sich in ihrem Stuhl zurück. „Ich finde es toll, dass Harry wieder aktiver im Unterricht mitarbeitet, aber ihr habt beide geschwänzt und das sollte Konsequenzen nachziehen."
Oh man, bitte nicht schon wieder irgendeinen Mist.
„Habt ihr eine Idee?", fragt Heath uns. „Ich bin nämlich absolut überfordert mich euch. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll."
Harry und ich sagen wieder nichts. Sie kann doch nicht von uns erwarten, dass wir ihr Strafen für uns vorschlagen.
Schließlich atmet sie tief durch und wendet sich von uns ab. „Geht in euren Unterricht. Ihr macht mich fertig."
Ich sehe Harry an und er sieht mich an. Er zuckt mit den Schulter und dann steht er auf, als wäre es ihm egal. Wahrscheinlich ist es ihm auch egal. Ich sehe zu, wie er aufsteht und sich seinen Rucksack nimmt. Er kennt das, ich aber nicht. Ich mochte Heath immer. Sie so zu sehen, belastet mich, aber trotzdem stehe ich auf und nehme mir meine Tasche.
Harry verschwindet schon aus dem Büro und ich drehe mich an der Tür nochmal zur Rektorin um, sehe, wie sie sich mit ihrem Bürostuhl halb zur Wand dreht und die Augen schließt.
„Es tut mir leid, Misses Heath", sage ich zu ihr, weil ich das Gefühl habe, ich müsste es. „So etwas wird nicht noch einmal vorkommen, wirklich."
Sie sagt erst noch nichts, doch dann dreht sie sich wieder etwas zu mir. „Weißt du, Violet. Es frustriert mich nicht, dass ihr den Unterricht geschwänzt habt."
„Nicht?", frage ich überrascht.
„Nein, das ist es nicht", sagt sie ausatmend. „Es frustriert mich, dass ich zufriedener mit eurem Verhalten bin, als ich sollte"
Ich runzle die Stirn. Was?
„Ich mag euch beide, egal was alles passiert und ich mag auch Harry, egal wie viel Unfug er anstellt. Und ihr beide strahlt. Ich bin zwar nur eure Rektorin, aber wer auf dem Schuldach erwischt wird und immer noch so strahlt, wie ihr ... Das ist einfach etwas, das mich auf irgendeine Art und Weise bei euch zufrieden macht."
Ich muss schmunzeln.
„Aber jetzt geh besser in den nächsten Unterricht." Heath ist wieder ernster. „Das hier bleibt unser Geheimnis, Miss Berrymore."
Artig nicke ich und öffne die Tür. „Versprochen, Miss Heath."
Kleines Kapitel, aber mehr ging heute leider nicht :/
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Violet Socks I HS
Fanfiction"Dich zu verlieren war etwas, womit ich nicht umgehen konnte." Das Schicksal verbindet Menschen, das Schicksal trennt Menschen. Aber manchmal weiß das Schicksal nicht, was es will und dann schlägt es zurück, und das mit Anlauf in violetten Socken...