Kapitel 29

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Marco's Sicht

Ich stoppte die Zeit: 46 Minuten und 42 Sekunden. Ein neuer Rekord. Ich ging zum Spielplatz nahe der Innenstadt, wo ich meine Wasserflasche stehen gelassen hatte und trank heftige Schlucke Wasser. Das tat richtig gut! Moritz hatte tatsächlich Recht gehabt...was den Fussball anbelangt. Ich hatte definitiv zu wenig gespielt, zu wenig Sport betrieben...
Das sollte ich Morgen wiederholen. Am Besten wäre es einfach die Jungs zusammenzutrommeln und eine richtig schöne Runde Fussball zu spielen. Dann wäre ich wieder etwas sportlicher und sogar kontaktfreudiger. Wer hätte das gedacht...
Ich setzte mich auf die Schaukel und trank wieder aus der Flasche. Ausser mir war eigentlich keiner da. Es war schon dunkel. Kein Kind der Welt hätte sich jetzt um diese Zeit, auf dem Spielplatz verirrt. Ausser Stricher und Junkies gab es nicht viele Menschen, die sich spätnachts noch auf Kinderspielplätzen herumtrieben. Oder man befand sich in meiner Lage...
Die Stille bringt uns Menschen zum Nachdenken und lässt dann manchmal einem wieder klar werden, welche Fehler man in ferner sowie früher Vergangenheit begangen hatte. Und meine reichen bis zum Borsigplatz. Eine kilometerlange Schleife, die nicht so schnell wieder behoben werden konnte. Dazu waren sie zu schwerwiegend. Ich war bei ihm durch. Das hatte er mir nicht deutlicher zeigen können. Vielleicht war es auch gut so...
Er selbst war glücklich mit diesem Dreckskerl und ich sollte es auch sein. Wieder Glück empfinden. Das sollte ich tun. Morgen ist ein neuer Tag. Ein besserer, weil alles anders sein würde. Einfach alles.

Mario's Sicht
Sonntag

Ich sass gerade in einem Bus, der mich wieder zurück zur Uni bringen sollte, doch ich stieg bei der nächsten Haltestelle wieder aus. Die vergangene Nacht verbrachte ich trotz der Entwarnung meines Arztes im Krankenhaus. Ich wollte nicht, dass mich Jonas nach Hause fuhr. Ich wollte bloss allein sein und das erreichte ich auch durch den überflüssigen Krankenhausaufenthalt. Nein, ich fuhr nicht zur Universität zurück. Ich fuhr auch nicht zu Jonas. Ich wollte meine Familie wiedersehen, denn seit meinem Auszug war eine Weile vergangen. Ich wusste nicht einmal wie lange...
Ich lief zur gegenüberliegenden Bushaltestelle und wartete auf den Bus, der mich zu meiner Familie bringen würde. Ich fühlte mich nicht gut. Eigentlich fehlte es mir an nichts. Ich war gesund, so fühlte ich mich auch, jedoch fühlte ich mich nicht mehr, als ginge ich mit leichtem Herzen durchs Leben. Nein, es wog Tonnen und ich drohte unter der Last zusammenzubrechen. Marco machte mir solche Schuldgefühle, solche Kopfschmerzen, dass ich nicht normal essen konnte, nicht normal schlafen konnte, nicht richtig denken konnte...sie plagten mich ständig, die ganze Zeit über. Wenn ich für ein paar Stunden Schlaf fand, verfolgten sie mich in meinen Träumen. Ein immer wiedekehrender Albtraum und das Nacht für Nacht. Ich war ein gebrochener Mann. Ich war müde und wollte deswegen nicht mehr leiden.
Deshalb ging ich zu meiner Familie.

"Dein Besuch überrascht uns, mein Schatz.", sagte meine Mutter.
"Ja. Stimmt etwas nicht mit der Uni?", fragte Papa. Ich sass vor dem Fernseher und ass Spaghetti mit Bolognese.
"Was soll denn sein, hm? Darf ich nicht einmal nach Hause gehen, ohne das etwas faul sein muss?", fragte ich gereizt. Meine Eltern sahen sich besorgt an. Dann nahm meine Mutter die Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. Ich reklamierte.
"Sohn, sag uns, was passiert ist.", sagte Papa. Ich schaute sie beide an und sah ein, dass ich nicht darum herumkam mit ihnen zu sprechen. Ich legte den Teller mit Spaghetti auf dem Tisch ab und setzte mich auf.
"Ich passe hier nicht rein."
"Was meinst du damit, Mario?", fragte meine Mutter besorgt.
"Ich spreche von dieser Stadt und von diesem neuen Leben, in das ihr mich hineingequetscht habt!"
"Aber...ich verstehe nicht...Woher der Sinneswandel?", fragte meine Mutter. Da platzte mir entgültig der Kragen.
"Sinneswandel?! Ich sage schon seit wir angekommen sind, dass ich hier nicht leben will!"
"Wir haben gedacht du gewöhnst dich daran und-"
"Ich hasse es hier! Ich hasse es verdammt nochmal hier zu sein! Ich will nach Hause.", unterbrach ich Mama. Vor Wut tränten meine Augen, denn ich konnte einfach nicht fassen, dass meine Eltern mir nicht zuhörten.
"Ich will in meine richtige Heimat zurück. Dieser Ort ist es nicht..."
Meine Mutter setzte sich neben mich und wischte mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
"Das dies dir so zusetzt, wussten wir nicht, mein Schatz.", sagte sie.
"Ich weiss auch nicht, was wir tun können, damit es dir wieder besser geht...Papa hat hier doch seinen Job."
Sie gab mir einen Kuss auf den Kopf. Mein Vater, der sich anscheinend nichts aus Tröstungen machte, seufzte und rieb sich genervt die Stirn. Schon da wusste ich, dass etwas nicht stimmte.
"Astrid, bring Mario eine Tasse Tee. Ich denke, er könne jetzt eine vertragen.", redete mein Vater mit meiner Mutter.
"Du willst alleine mit ihm reden?"
Er blickte auf und bejahte. Mama willigte ein und verschwand aus dem Wohnzimmer. Mein Vater öffnete ein Fenster und setzte sich wieder neben mich. Mit einem tiefen Stöhnen rieb er sich die Schläfen. Nervte ich ihn?
"Du hörst mir jetzt gut zu, hast du verstanden? Du hast die Chance mir zu sagen, wieso du heulst, denn eines ist glasklar: es ist nicht die Heimat, die du hinterher trauerst, Mario." Ich schaute ihn mit grossen Augen an. Er war sichtlich genervt von diesem Gespräch.
"Deine Mutter kannst du vielleicht hinters Licht führen, aber mich nicht. Du bist schon immer leicht zu durchschauen gewesen. Schon als Kind hast du Dingen hinterher geweint, die eigentlich gar nicht in deinem Interesse gestanden sind. Und jetzt schon wieder. Ich kenne dich besser als alle deine Freunde und Brüder dich. Du bist schon über drei Monate auf dieser Universität und du hast uns seither nicht ein einziges Mal angerufen."
"Ich hab viel zu tun gehabt.", sagte ich leise.
"Mich zu belügen bringt dir nichts.", sagte mein Vater.
Ich hielt den Mund. Die Art und Weise, wie er mit mir sprach, gefiel mir ganz und gar nicht.
"Ich gebe dir noch eine letzte Chance, mir selbst zu erzählen, was dort vorgefallen ist.", sagte er.
Ich öffnete meinen Mund, doch kein Ton entwich meiner Kehle. Was hätte ich ihm denn sagen können?
"...Weisst du, dass mich dein Professor für Wirtschaft und Recht angerufen hat?"
Was? Herr Bubendorf?
"Was?", sagte ich, "Warum?"
"Er informierte mich über einen Vorfall in der Universität. In deiner zweiten Studienwoche. Seit dem stehst du von Herr Bubendorf unter Beobachtung."
Ich knirschte mit den Zähnen.
"Welchen Vorfall?", fragte ich.
Ich war definitiv gefickt. Das sollte mit Abstand das Schlimmste Gespräch meines Lebens werden.
"Welcher Vorfall, denn?", fragte ich wieder.
"Er hat dir das Handy weggenommen...und die einte Nachricht gelesen, die auf dem Bildschirm eingeblendet gewesen ist."
Jetzt war es amtlich. Ich war zu 100% gefickt. Vor diesem Moment fürchtete ich mich seit meinem 13. Lebensjahr, aber...jetzt da der Moment der Wahrheit gekommen war, erschien es mir nicht mehr so furchteinflössend zu sein. Es liess mich fast sogar kalt...
"Ja, hat er...", sagte ich und schaute auf meine ineinander verkeilten Hände, "...und was schlussfolgerst du daraus?"
Ich wollte ihm unter diesen Umständen nicht in die Augen sehen, denn wenn ich ehrlich zu mir selber war, hatte ich Angst, mein Vater reagiere abstössig auf meine sexuelle Orientierung. Und das wollte ich nicht. Das wollte insgeheim doch niemand, der schwul war. Ich wollte nicht anders behandelt werden als alle anderen auf dieser Welt. Ich wollte wie auch zuvor von meinen Eltern geliebt und respektiert werden. Das war mein gutes Recht.
"Was soll ich daraus denn schlussfolgern?", "Dass mein eigener Sohn pervers ist? Oder, dass er..."
Er hielt sich mit den Händen das Gesicht fest und schloss seine Augen so fest er nur konnte, als sei dies ein Albtraum, aus dem er schnellstens erwachen wollte.
"Mein eigener Sohn...", hörte ich ihn wispern. Ich starrte mit leerem Blick aus dem sich vor mir befindenden Fenster und fragte mich, wie mich das Glück nur so schnell verlassen konnte.

Götzeus - Es passierte in jener Nacht (Pausiert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt